Aelius Aristides war beeindruckt. "(Nach Rom) wird herbeigeschafft, aus jedem Land und jedem Meer, was immer die Jahreszeiten wachsen lassen und alle Länder, Flüsse und Seen sowie die Künste der Griechen und Barbaren hervorbringen", sagte der griechische Redner im Jahr 155 nach Christus über die Hauptstadt des Römischen Reiches. "So zahllos sind die Lastschiffe, die hier eintreffen und alle Waren aus allen Ländern von jedem Frühjahr bis zu jeder Wende im Spätherbst befördern, dass die Stadt wie ein gemeinsamer Handelsplatz der ganzen Welt erscheint." Was man in Rom nicht sehen könne, schließt Aelius Aristides seine Ausführungen, das würde auf der Welt auch nicht existieren. Getreide aus Ägypten, Olivenöl aus der Baetica im Süden der Iberischen Halbinsel, exotische Waren wie irische Jagdhunde, kein Wunsch blieb auf den Marktplätzen Roms unerfüllt. "Globalisierung ist wahrhaftig kein neues Phänomen", sagt der Althistoriker Christoph Schäfer von der Universität Trier. "Die Römer lebten bereits in einer globalisierten Welt."
Das römische Imperium war ein gigantischer Wirtschaftsraum. Praktisch überall wurde die gleiche Verkehrssprache gesprochen, es galt eine einheitliche Währung sowie dasselbe Rechtssystem. Die Waren in diesem riesigen Handelsnetzwerk wurden, wie Aelius Aristides in seiner Rede betonte, vornehmlich auf Schiffen vom einen Ende des Römischen Reiches zum anderen transportiert. Doch damit ergibt sich für die Rekonstruktion der antiken Warenströme ein Problem. Denn während der Transport über Land reichlich archäologische Zeugnisse in Form von Straßen, Meilensteinen oder Rasthäusern hinterlässt, schlagen nach einem Schiff die Wellen wieder zusammen und das Meer sieht aus, als wäre nichts gewesen. Zwar geben vereinzelte Schiffswracks und antike Berichte Hinweise auf die Seerouten, doch deren Verlauf ist bei Weitem nicht so lückenlos dokumentiert wie die Landwege.
Zeit war auch in der Antike Geld
Um das zu ändern, verfolgt Schäfer das Langzeitprojekt "Maritime Verbindungen und ihr Einfluss auf den antiken Seehandel". Neun Jahre lang wollen die Wissenschaftler des Trierer Transmare-Instituts gemeinsam mit anderen Institutionen die Seewege erforschen, die Rom zu einem gigantischen Handelsimperium machten. Bei null müssen sie nicht anfangen: "Wir können bereits auf fast 20 Jahre Forschung aufbauen", sagt Schäfer. So war der Althistoriker bereits am originalgetreuen Nachbau und der Erprobung dreier römischer Kriegsschiffe, eines Last- sowie eines Handelsschiffes beteiligt. "In unserem Projekt arbeiten Historiker und Archäologen Seite an Seite mit Handwerkern, Maschinenbauern, Astrophysikern, Informatikern und Wirtschaftswissenschaftlern."
Einer von Letzteren ist der selbständige Berater Pascal Warnking - der sein Wissen aus der Geschäftswelt nutzte, um römische Handelsrouten auf ihre Wirtschaftlichkeit zu prüfen. Denn so recht glauben wollte den antiken Autoren niemand, wenn sie von den Geschwindigkeiten berichteten, mit denen die römischen Handelsschiffe angeblich durch das Mittelmeer reisten. Zum Beispiel Cato der Ältere: "Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss", soll der römische Staatsmann im zweiten Jahrhundert vor Christus in jeder Senatssitzung gefordert haben. Um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen, brachte er einmal eine Schale Feigen mit ans Rednerpult. Am Ende seiner Rede hielt er eine davon demonstrativ in die Luft und warnte: "Sie wurde erst vor drei Tagen in Karthago gepflückt!" So schnell sollten die punischen Schiffe angeblich von Karthago nach Rom segeln können. Wiederholt wurde diese Aussage von Historikern als Effekthascherei belächelt. Doch: "Cato hatte recht", sagt Warnking.
Zeit war auch in der Antike Geld. Entsprechend waren die römischen Investoren auf optimierte Routen aus, die ihnen den größtmöglichen Gewinn versprachen. Jeder zusätzliche Tag auf See kostete Verpflegung für die Mannschaft - und brachte das Schiff möglicherweise um eine weitere Fahrt, bevor die Winterstürme einsetzten. Die optimale Route aber ist abhängig von der Jahreszeit, den Wetterbedingungen, Winden und Strömungen. Heutzutage werden Seerouten mithilfe von nautischer Software berechnet, die all diese Faktoren miteinbezieht. "Warum sollte das nicht auch für antike Handelsschiffe funktionieren?" fragte sich Warnking. Er besorgte sich "Expedition" - eine Regatta- und Navigationssoftware, die auch beim Ocean Race, beim America's Cup und bei der Vendée Globe zum Einsatz kommt - und fütterte sie mit allen verfügbaren Daten von Rahseglern aus sämtlichen Epochen der Geschichte, derer er habhaft werden konnte: Schäfers römische Schiffe, Nachbauten von Wikingerbooten aus dem dänischen Roskilde, Messungen der französischen Kriegsmarine aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie des modernen Segelschulschiffs Gorch Fock. Hinsichtlich des Wetters half ein glücklicher Umstand: Das sehr gut dokumentierte mediterrane Klima im 20. Jahrhundert entspricht ziemlich genau dem zur römischen Kaiserzeit.
Als Warnking die Daten prüfte, gewann Catos düstere Prognose gewaltig an Bedrohlichkeit. Und eine weitere Textstelle erschien plötzlich in einem neuen Licht. In seinem Preisedikt schreibt Kaiser Diokletian (236/245 bis 312 nach Christus) die maximalen Transportkosten für Waren auf knapp 50 unterschiedlichen Seerouten vor. Die scheinbar unstimmigen Vorgaben hatten Althistoriker in der Vergangenheit dazu verleitet, den Erlass als kaiserliche Fehlkalkulation abzutun. Als Warnking aber seine antiken Rahsegler-Daten in die Regatta-Software einspeiste, erklärten die errechneten Segelzeiten nahtlos die Vorgaben Diokletians. "Das war mein Heureka-Moment", sagt Warnking.
Die nachgebauten römischen Schiffe sind mit modernster Messtechnik gespickt
Während Pascal Warnking mit seinen Routen-Berechnungen der Experte für das Unsichtbare ist, hat Christoph Schäfer es geschafft, die römische Seefahrt nicht nur sicht-, sondern auch greifbar zu machen. Seine Schiffsrekonstruktionen wurden von Studierenden der Universität Trier und freiwilligen Helfern unter Anleitung eines spezialisierten Bootsbaumeisters mit antiken Methoden und Handwerkstechniken gebaut. Die Vorbilder waren Wracks wie zum Beispiel das 1978 vor der französischen Küste bei Marseille entdeckte Handelsschiff Laurons II.
Doch wie verhält sich ein römisches Schiff auf dem Wasser? Wie kommt es am schnellsten vorwärts? Für diese Fragen haben Schäfer und sein Team gemeinsam mit Maschinenbauern der Hochschule Trier und Astrophysikern der Technischen Universität Hamburg-Harburg sowie des MIT ein nautisches Messinstrument adaptiert und weiterentwickelt. Wenn die Nachbauten auf der Mosel ihre Testfahrten absolvieren, erregen sie stets Aufmerksamkeit. Was jedoch kaum einer der Zuschauer ahnt, ist, dass die Römerschiffe an Rumpf und Rah mit modernster Technik gespickt sind, die konstant Daten zu Geschwindigkeit, Bewegungen und Belastungen liefern.
Für die professionelle nautische Ausbildung reisen Mitarbeiter und Studierende in die Niederlande und die Ägäis. Aber auch Grundkenntnisse im Rudern sind von Vorteil, denn ohne Muskelkraft lief auf den Flussbooten, die ebenso zum Transportnetzwerk gehörten wie die großen Segler, gar nichts. Zu welcher maximalen Geschwindigkeit können Schiffe durch Rudern, Staken oder Treideln angetrieben werden? Welche Reisegeschwindigkeit kann eine volle Besatzung Ruderer in zwei unterschiedlichen Typen römischer Kriegsschiffe über mehrere Stunden halten? Auch das kann gemessen werden: In einem Test traten Ruderer auf den beiden Flusskriegsschiffen Victoria und Lusoria Rhenana gegeneinander an, während ihr Laktatspiegel und ihre Herzfrequenz überwacht wurden - bis zur völligen Erschöpfung.
"Wir erzeugen hier Quellenmaterial, das es vorher noch nie gab", sagt Schäfer. Alle neuen Informationen fließen in das Herzstück der Projektes: den Digitalen Interaktiven Maritimen Atlas zur Geschichte, der online zur Verfügung gestellt werden soll. Mit ihm können Wissenschaftler aus der ganzen Welt dann für ihre eigenen Forschungsvorhaben die großen Linien des Seehandels und der antiken Wirtschaft begreifen und simulieren. Eines jedenfalls zeichnet sich laut Schäfer jetzt schon ab: "Die römische Wirtschaft mutet sehr viel moderner an, als wir es uns je vorgestellt haben."