Doch rituelle Beschneidungen von Jungen werden nicht nur an Krankenhäusern vorgenommen. Dem Gesetz zufolge dürfen schließlich auch Personen Beschneidungen vornehmen, die von einer Religionsgemeinschaft dazu vorgesehen wurden - wenn sie dafür besonders ausgebildet wurden. Erlaubt ist ihnen der Eingriff innerhalb der ersten sechs Monate. Damit ist der Weg auch frei für jüdische Beschneider (Mohalim), da der Eingriff bei jüdischen Jungen normalerweise am achten Tag nach der Geburt stattfindet. Wie die Sechs-Monats-Frist zu der Empfehlung passt, dass Kinder bis zum 14. Lebenstag beschnitten werden sollten, danach jedoch nicht, bis sie zwei Jahre alt sind, ist unklar.
Um dem neuen Gesetz zu entsprechen, vergibt der Zentralrat der Juden seit kurzem jedenfalls ein Zertifikat an jüdische Beschneider, die sich einem Fortbildungsseminar unterzogen haben. Auf der Website des Zentralrats heißt es dazu, die Teilnehmer "wurden fachlich sowohl in Fragen der neuen Rechtslage als auch der Schmerzbekämpfung und Hygiene unterwiesen". Die Pressesprecherin des Zentralrats will auf Anfrage keine Details zu Lehrinhalten und Teilnehmerzahl nennen, sondern bittet darum, sich ans JKB zu wenden, weil dessen Ärztlicher Direktor Graf bei dem Seminar die medizinische Beratung übernommen habe. Am JKB wiederum sagt man, zu den Seminarinhalten solle man sich an den Zentralrat wenden.
In der Jüdischen Allgemeinen erklärte Josef Schuster, Vizepräsident des Zentralrats und Mediziner, wichtig seien "Hygiene und Instrumentensterilität". Und man sei sich einig, dass Emla-Salbe "der einzige gangbare Weg" in der Schmerzbekämpfung sei.
Die Diskussion geht weiter
Zu denen, die sich hier einig sind, gehört Bernd Tillig ganz sicher nicht. "Die alleinige Anwendung von Emla zur Beschneidung Neugeborener und Kinder ist unzureichend und ethisch inakzeptabel", sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH). Seine Fachgesellschaft stehe "uneingeschränkt" hinter den jüngsten Empfehlungen der europäischen Kollegen: Emla sei höchstens zur Schmerzlinderung geeignet, keinesfalls aber handle es sich dabei um eine adäquate Schmerzausschaltung. "Offensichtlich erfüllt Emla in diesem Zusammenhang lediglich eine Alibi-Funktion", sagt Tillig und spricht sogar von Kindesmisshandlung.
Da außerdem nichtärztliche Beschneider einerseits operieren, aber keine wirksame Anästhesie vornehmen dürfen, ist es schwierig, die gesetzliche Forderung nach den "Regeln der ärztlichen Kunst" zu gewährleisten. Deshalb, so sagt der Generalsekretär der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, Manfred Gahr, komme es in Deutschland sogar zu Beschneidungen ohne Betäubung.
Die Bundestagsabgeordneten hatten im Dezember 2012 gehofft, die teils heftige Debatte in der deutschen Gesellschaft über die rituelle Beschneidung von Jungen zu beenden und Rechtssicherheit für Juden und Muslime herzustellen. Beides ist gescheitert. Unter Juristen ist das Gesetz weiterhin höchst umstritten. So bezeichnete etwa der Richter Ralf Eschelbach vom Bundesgerichtshof das Gesetz im März als "offensichtlich verfassungswidrig" (Beck'scher Online-Kommentar StGB § 223 III: "Aussgrenzung von Bagatelleingriffen in körperliche Integrität und von Fällen sozialer Adäquanz").
Und auch Betroffene wie die Mitglieder der Organisation Mogis sowie Organisationen wie Terre des Femmes, aber auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie üben weiterhin heftige Kritik. Sie fordern eine Anerkennung des Rechtes des Kindes auf genitale Selbstbestimmung.
Ein Jahr nachdem der Bundestag das Gesetz zur Beschneidung verabschiedet hat, müssen sich die Abgeordneten also die Frage stellen, ob sie vor ihrer Entscheidung gut genug informiert waren. Oder ob es ihnen ergangen ist wie Walter S. am Jüdischen Krankenhaus in Berlin.