Dieser Rotwein sollte dringend dekantiert werden. Das Werkzeug der Wahl könnte zum Beispiel ein Kellnermesser mit Griffschalen aus Olivenholz sein. Nun den Zieher sachte eindrehen und den Korken ohne Gewalt anheben. Vorsicht, eventuell ist der Stopfen aus Naturmaterial durch die Lagerung brüchig geworden. Ist die Flasche geöffnet, sollte der Wein unbedingt langsam an den Innenwänden des Dekanters hinabrinnen. Während der Wein dann atmet, richten wir die der Rebsorte entsprechenden Gläser. Nach dem Einschenken dann die Kelche schwenken, riechen, kosten, etwas expressive Gesichtsartistik betreiben mit entsprechenden Weinvokabeln aufwarten.
Solche ritualisierten Abläufe rund um das Essen und Trinken nennen manche Menschen Kultur, andere Gedöns. Doch Rituale dieser Art, so berichten nun Psychologen um Kathleen Vohs von der Universität von Minnesota, steigern tatsächlich den Genuss ( Psychological Science, online). Das mögen manche Genießer für eine Binsenweisheit halten, wurde aber laut den an der Studie beteiligten Wissenschaftlern bislang nicht empirisch belegt.
Die Vermutung liegt allerdings nahe, denn in kaum einem Lebensbereich existieren so viele Rituale wie rund um Lebensmittel. Essen spielt in religiösen Handlungen eine Rolle und mancher Glaube schreibt präzise Praktiken bei der Schlachtung von Tieren vor. Gemeinsame Essen am Tisch sind hochgradig ritualisiert. Wenn in Lokalen der Spitzengastronomie ein Gang aufgetragen wird, gleicht die Darbietung des Personals gelegentlich einer Aufführung des russischen Staatsballetts.
Manche Rituale sind banal und harmlos: Die Kerzen auf dem Geburtstagskuchen, die unter Getöse ausgeblasen werden; der Grill im Garten, der mit großer Ernsthaftigkeit angefeuert wird; oder eben der ganze Wirbel rund um Wein.
Höherer Genuss dank Ritual
Aber es wirkt. Kathleen Vohs und ihr Team haben das in mehreren Experimenten überprüft. Zum Beispiel ließen sie Probanden Schokolade essen, bewerten und ermittelten, wie viel Zeit sich die Testpersonen ließen, um den Schokoriegel zu verzehren. Selbstverständlich geschah dies unter einem Vorwand, der das wahre Ziel der Studie verschleierte. Eine Hälfte der Probanden führte vor dem Verzehr der Schokolade ein kleines Ritual aus. Dieses definierten die Wissenschaftler so: "eine symbolische Handlung, die meist aus wiederholten, ungewöhnlichen Verhaltensweisen besteht, die in festen, episodischen Sequenzen ausgeführt werden".
Das Schokoriegel-Ritual bestand darin, die Süßigkeit zunächst in zwei Hälften zu brechen, ohne sie zuvor auszupacken. Dann durfte ein Stück ausgewickelt und gegessen werden, dann sollte mit der zweiten Hälfte ebenso verfahren werden. Wer die Schokolade nach diesem Muster aß, ließ sich mehr Zeit beim Kauen und schätzte den Preis der Schokolade höher ein. Wurden die Teilnehmer direkt danach gefragt, stuften sie ihren empfunden Genuss zudem höher ein als jene, die den Riegel formlos gegessen hatten.
Die meisten Menschen mögen nun ohnehin gern Schokolade, deswegen überprüften die Psychologen ihre These mit weiteren Lebensmitteln, unter anderem Karotten. Dabei zeigte sich das gleiche Muster sowie weitere Details. Rituale steigern neben dem erlebten Genuss auch die Vorfreude. Und liegt zwischen der rituellen Handlung um dem Essen eine Verzögerung, erhöhte das den Geschmack zusätzlich.
Wichtig sei dabei, so berichten die Psychologen, dass die Handlungen stets die gleichen bleiben. Ließen die Psychologen ihre Probanden zum Beispiel stets unterschiedliche, seltsame Bewegungen vor dem Verzehr einer Karotte ausführen, hatte dies keinen Einfluss auf den empfundenen Genuss. Auch Rituale bei anderen Probanden zu beobachten, reichte nicht, um den Genuss wesentlich zu steigern.
"Rituale machen das Leben besser", sagt Vohs und zwar in vielen Bereichen. Zumindest bei zwanghaften Menschen reduzieren sie Stress, sie verleihen Lebensmitteln - so haben anderen Studien ergeben - eine Aura von Reinheit, sie fördern prosoziales Verhalten und stärken den Zusammenhalt von Gruppen. Andere Studien haben gezeigt, wie Kinder von einem Familienumfeld mit gemeinsamen Ritualen profitieren. Sie verfügen im Schnitt über eine ausgeprägtere Selbstkontrolle und erzielen bessere Bildungserfolge.
In ihrer aktuellen Studie bezieht Vohs diese Ergebnisse aus der Ritualforschung nun auf Essen. In Frankreich, so schreibt die Psychologin, seien viele Kinder mit Essen weniger heikel als in anderen Industriestaaten.
Das könnte daran liegen, dass dort großer Wert auf gutes Essen gelegt wird und dieses oft in feierlicher Runde und mit gemeinsamen Ritualen gegessen werde. Vielleicht reduziere das Aversionen gegen verschiedene Lebensmittel, spekuliert die Forscherin.
Und selbst wenn diese Aussage nicht haltbar sein sollte, legen die Ergebnisse der Studien nahe, dass gemeinsame Familienessen wertvoll sind. Sie steigern den Genuss, sie halten die Familie zusammen und tragen mutmaßlich zur positiven Entwicklung der Kinder bei.
Die Gefahr ist natürlich, dass viele Eltern auf diese Nachricht hin überambitioniert auf die Einhaltung von Essensritualen achten, damit der Nachwuchs das Abitur schafft und einen Uni-Abschluss erzielt. Das dürfte dann wiederum kontraproduktiv sein - vor allem was den Genuss angeht.