Risikoforschung:Angst als Schutzengel

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Das Zugunglück bei Santiago de Compostela

(Foto: AFP)

In San Francisco kommt es zur Bruchlandung einer Boeing 777, bei Santiago de Compostela entgleist ein Hochgeschwindigkeitszug, zugleich beginnt der Prozess gegen den Kapitän der havarierten "Costa Concordia". So unterschiedlich diese Katastrophen sind - was ihre Ursachen betrifft, zeigen sie viele Gemeinsamkeiten.

Ein Gastbeitrag von Klaus Heilmann

Am 25. Juli 2013 verunglückte in der Nähe von Santiago de Compostela ein Hochgeschwindigkeitszug in einer engen Kurve. Der als erfahren geltende und mit der Strecke vertraute Lokführer fuhr mehr als doppelt so schnell wie erlaubt. 79 Menschen starben, viele wurden zum Teil schwer verletzt.

Am 7. Juli 2013 kam es zur Bruchlandung einer Boeing 777 auf dem Flughafen von San Francisco. Die Maschine einer südkoreanischen Fluggesellschaft flog zu tief und zu langsam, kollidierte mit einer Kaimauer, brach auseinander und brannte aus. Drei Tote waren zu beklagen, etliche der 305 Überlebenden wurden verletzt. Die Crew war erfahren, aber noch nie zusammen geflogen. Der Pilot befand sich auf diesem Flugzeugtyp noch in Ausbildung und kannte den gefährlichen Flughafen nicht. Er vertraute die Landung der Automatik an.

Im Juli 2013 stand erstmals der Kapitän des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia vor Gericht, das am 13. Januar 2012 vor der toskanischen Insel Giglio mit einem Felsen kollidiert war. Das Schiff war technisch bestens ausgerüstet und verfügte über die üblichen Navigationssysteme. Kapitän und Offiziere galten als erfahren, handelten nach Zeugenaussagen jedoch wenig professionell, die Evakuierung war chaotisch. Es gab 32 Tote unter den mehr als 4000 Menschen an Bord.

So unterschiedlich diese drei Katastrophen verschiedener, moderner Massenverkehrsmittel in jüngster Zeit auch sind - was ihre Ursachen betrifft, zeigen sie viele Gemeinsamkeiten. Es sind immer wieder die gleichen Fehler, die hätten vermieden werden können, wenn die Beteiligten - Ingenieure, Hersteller und Betreiber der Verkehrsmittel - frühere Erfahrungen und Erkenntnisse angemessen berücksichtigt hätten. Und wenn der Mensch nicht dieses seltsame Vertrauen in Technik, Kontrollsysteme und Sicherheit schlechthin hätte.

Komplexe Technologie immer anfälliger

Technische Systeme werden umso anfälliger, je komplexer die Technologien sind, mit denen sie arbeiten, und je mehr Unternehmen ihre Finger dabei im Spiel haben. Zugleich wird es immer schwieriger, sie zu beherrschen. Wie Analysen von Unfällen der Vergangenheit erkennen lassen, wären viele durch verbesserte Sicherheitseinrichtungen zu vermeiden gewesen, die aber unterblieben - manchmal aus Kostengründen, manchmal, weil die Warnungen von Experten keine Beachtung fanden.

Und dann gibt es jene Fälle, bei denen Vorsichtsmaßnahmen zwar vorgegeben waren, aber nicht beachtet wurden. Und selbst wenn nach einem Unglück gute Vorsätze in Bezug auf Sicherheit gefasst wurden, werden sie - gerade bei dem rasanten Tempo des technischen Fortschritts - häufig schnell wieder vergessen - und so ändert sich nichts.

Anschaulich lässt sich das an der Entwicklung des Bahnverkehrs in den vergangenen Jahrzehnten zeigen: Das Jahr 1971 war mit vier schweren Eisenbahnunglücken und mehr als 100 Toten und vielen Verletzten für die Deutsche Bahn ein wahres Schreckensjahr. Vor allem aus einem dieser Unglücke wollte man damals Lehren ziehen: Am 9. Februar durchfuhr der TEE Bavaria auf der Fahrt von München nach Zürich bei Aitrang im Allgäu eine für Tempo 80 zugelassene Kurve mit 132 km/h - und entgleiste. Der Zug besaß an einem Ende einen sogenannten Steuerwagen, von dem aus der Lokführer den (schweren) Maschinenwagen am anderen Ende kontrollieren konnte. Dank dieses Novums konnte der Zug in beide Richtungen fahren, ohne dass dafür rangiert werden musste. Als es zu dem Unglück kam, wurde der Zug geschoben.

Die Schwere des Unfalls, bei dem insgesamt 28 Menschen starben, wurde besonders auch auf diesen Umstand zurückgeführt. Dass das Schieben oder Ziehen einen Unterschied macht, weiß jeder Autofahrer, der Erfahrungen mit Vorderradantrieb und Hinterradantrieb in der Kurve gemacht hat. Es kam hinzu, dass die Waggons von hinten weiter geschoben wurden, nachdem sie bereits entgleist waren.

Gute Vorsätze - schnell vergessen

Nach Aitrang - so der Vorsatz - sollten Züge nie wieder geschoben werden. Der TEE Bavaria wurde tatsächlich fortan gezogen. Und nach einem schweren Zugunglück bei Rheinweiler in Südbaden im gleichen Jahr wollte man auch nie wieder einen Schnellzug mit nur einem Lokführer fahren lassen.

Doch Lokführer sind weiter solo unterwegs. IC-Züge fahren heute mit Steuerwagen und Triebkopf (Lokomotive), werden also entweder gezogen oder geschoben. Und das gleiche gilt für deutsche Hochgeschwindigkeitszüge, die mit zwei Triebköpfen (ICE 1), mit einem Triebkopf und Steuerwagen (ICE 2) oder als Triebwagenzüge mit verteiltem Antrieb (ICE 3) unterwegs sind. Vermutlich hing gerade das Ausmaß der ICE-Katastrophe von Eschede 1998 mit 101 Toten mit einer solchen Antriebsverteilung zusammen, und das gleiche gilt wohl für den Unfall bei Santiago de Compostela: Der hintere Triebkopf schob die Waggons vor ihm zusammen, während früher die gezogenen Waggons beim Entgleisen wohl nur umgekippt wären.

Faktor Mensch

Neben der Technik kommt natürlich auch der Faktor Mensch ins Spiel. Denn immer wieder stellen Experten bei der Untersuchung von Katastrophen fest, dass diese auch die Folge menschlicher Fehlbarkeit waren. So führen Hybris, Sorglosigkeit, Arroganz, Prestige- und Hierarchiedenken oder auch nur Leichtsinn, Selbstüberschätzung oder Verantwortungslosigkeit ebenfalls zu unsachgemäßem oder falschem Umgang mit Technik. Ob dies auch auf die Kapitäne und den Lokführer der hier diskutierten Katastrophen zutrifft, ist nicht bekannt.

Aber von vielen Beispielen wissen wir, dass gerade Menschen mit langjähriger Berufserfahrung - Schiffskapitäne und Piloten, Lokomotivführer und Busfahrer, aber auch Chirurgen - sich in kritischen Situationen wagemutiger verhalten, als solche, die weniger erfahren sind. Und dies hat tatsächlich in dem einen und anderen Fall schon zu Katastrophen geführt.

Es überrascht deshalb nicht, dass von Seiten der beteiligten Unternehmen nach Unfällen fast immer und bewusst "menschliches Versagen" als Ursache ins Spiel gebracht wird - so auch in den hier diskutierten Fällen. Zum einen hat dies einen Beruhigungseffekt für die Öffentlichkeit, denn so entsteht der Eindruck, dass solche Fehler etwas Persönliches sind und sich eher nicht wiederholen. Zugleich ist menschliches Versagen aber auch immer die Variante, bei der ein Unternehmen am billigsten davon kommt. Denn werden technische Fehler nachgewiesen, stehen den Verantwortlichen Schadenersatzklagen ins Haus, müssen Teile oder ganze Systeme einer Technik neu konzipiert oder sogar aufgegeben werden. Am Ende droht sogar der Verlust lukrativer Aufträge.

Es erstaunt auch nicht, dass die Frage, ob dieses oder jenes Unglück auch bei uns passieren könne, immer wieder gleich beantwortet wird: So sagte DB-Vorstand Volker Kefer, auf das spanische Unglück angesprochen, dass es hierzuland nicht vorstellbar sei. Leider entstehen aus dem, was nicht vorstellbar ist, mitunter die größten Katatstrophen.

Unmäßige Ansprüche an die Technik

Es gibt noch einen weiteren wichtigen Grund für die Dimensionen der Katastrophen: unsere unmäßigen Ansprüche an die Technik. Wenn alle reisen wollen, und das auch noch fast umsonst, dann müssen Schiffe, Flugzeuge und Züge immer größer und länger werden, wobei ihr Einsatz aber nicht teurer werden darf. Damit bleibt aber auch die Sicherheit auf der Strecke, da im Zweifelsfall der Kommerz immer Vorrang hat.

Der technische Fortschritt hat damit zu einer nahezu paradoxen Situation geführt. Trotz aller Katastrophen haben wir uns an ein Gefühl von Sicherheit gewöhnt - sie erscheint uns geradezu als selbstverständlich. Und trotz aller Erkenntnisse über die Ursachen von Unglücken nehmen wir sie als extreme Ausnahmen wahr, und nicht als gewissermaßen inhärente Aspekte von komplizierter Technologie in Kombination mit menschlicher Unzulänglichkeit.

Wie leicht wir vergessen, dass eine einmal erreichte Sicherheit wieder verloren gehen kann, belegt anschaulich auch die Rückkehr von Infektionskrankheiten, die wir schon besiegt zu haben glaubten. So hängen die Ausbrüche von Masern - wie jüngst wieder in Bayern und Berlin - vor allem damit zusammen, dass viele Eltern ihre Kinder trotz der guten Erfahrungen der Vergangenheit nicht impfen lassen. Sie wähnen sich in Sicherheit, denn es kommt ja nur noch relativ selten zu Infektionen. In den 1950er Jahren musste man Eltern beispielsweise nicht davon überzeugen, ihre Kinder gegen Kinderlähmung impfen zu lassen, da die Opfer dieser schrecklichen Krankheit jeden Tag auf den Straßen zu sehen waren.

Die Impfmüdigkeit hängt also vor allem damit zusammen, dass es schwer ist, jemanden von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich gegen etwas zu schützen, was er nicht als Gefahr erkennen kann. Das Risiko wird nicht mehr einkalkuliert, so, als existiere es gar nicht mehr. Dabei gefährdet dieses Verhalten nicht nur die eigenen Kinder sondern auch andere Menschen.

Die zunehmende Sicherheit, die uns der technische Fortschritt in allen Bereichen unseres Lebens bringt, hat uns viele unserer Ängste vor der Technik genommen. Diese Ängste aber, ob rational oder irrational, sind wichtig. Wird der Mensch nicht mehr mit Gefahren konfrontiert, verliert er sein Gefühl für sie. Er fühlt sich sicher - zu sicher. Ohne Angst gibt es keine Vorsicht, das Leben wird wieder riskant. So gesehen ist Sicherheit einer der ärgsten Feinde des Menschen - und Angst unser Schutzengel.

Klaus Heilmann war Professor für Medizin an der TU München. Als Risikoforscher hat er zahlreiche Unternehmen, Verbände und Organisationen in Kommunikationsfragen beraten, darunter die deutsche Energiewirtschaft nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl und die deutsche chemische Industrie nach der Verseuchung des Rheines nach dem Brand in Schweizerhalle (Basel). Im Mai ist sein Buch "Zeitbombe Medikamente. Warum Sie Ihren Arzneimitteln nicht blind vertrauen dürfen" erschienen.

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