Süddeutsche Zeitung

Rettung von Lawinenopfern:Minuten entscheiden

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Etwa 100 Menschen sterben im Durchschnitt jedes Jahr in den Alpen durch Lawinen. Wie viel Zeit haben die Retter nach einem Lawinenunglück, um Opfern das Leben zu retten?

Christian Weber

Es ist der Albtraum der Skitourengeher: Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ist die Lawine den Berg hinabgedonnert, Kameraden sind verschüttet worden - und die Uhr beginnt zu ticken.

Nur wer in den ersten 18 Minuten gefunden und geborgen ist, hat eine Überlebenschance von 91 Prozent - so steht es in den Lehrbüchern. Danach fällt die Überlebenswahrscheinlichkeit stark ab, weil die vom Schnee Begrabenen entweder ersticken, ihren Verletzungen erliegen oder langsam erfrieren. Etwa 100 Menschen sterben so im Durchschnitt jedes Jahr in den Alpen; im besonders schlimmen Lawinenwinter 2009/2010 waren es sogar 147.

Alpine Notfallmediziner wissen allerdings, dass es Abweichungen von diesen Faustregeln gibt. Wahrscheinlich gibt es sogar nationale Unterschiede, wie kanadische, italienische und Schweizer Forscher um Pascal Haegeli von der Simon Fraser University im Fachmagazin Canadian Medical Association Journal (online) berichten.

Bei der vergleichenden Analyse von mehr als 1200 Lawinenunfällen aus Kanada und der Schweiz ergab sich nämlich, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit in dem nordamerikanischen Land bereits nach zehn Minuten stark abnimmt, statt nach 18 Minuten wie in der Schweiz. Der Grund liegt wahrscheinlich darin, dass der Schnee in den maritim beeinflussten Bergregionen wärmer, feuchter und dichter gepackt ist, so dass er weniger Sauerstoff enthält. Deshalb ersticken die Lawinenopfer schneller.

Auch die Langzeitüberlebensrate nach mehr als 35 Minuten Verschüttungszeit sei in Kanada niedriger, weil die Betroffenen allein schon wegen der größeren Distanzen nicht schnell genug und angemessen medizinisch versorgt werden. In Kanada sei die Gesamtmortalitätsrate bei Lawinenunfällen nur deshalb nicht höher als in der Schweiz, weil Alpinisten dort meist mit professionellen Bergführern unterwegs sind, die wesentlich schneller als Laien Verschüttete bergen können.

"Die Studie zeigt, wie wichtig trotz allen medizinischen Fortschritts die Kameradenhilfe im Gebirge ist", sagt der Mediziner Hermann Brugger, Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin in Bozen und Experte für Lawinenopfer. Auch in den Alpen dürfe man sich vermutlich nicht immer und überall darauf verlassen, dass die Helfer bei einem Unfall eine gute Viertelstunde Zeit für die Bergung hätten: "Bei feuchten und warmen Verhältnissen wird sich der Sauerstoffgehalt im Schnee bei uns vermutlich ähnlich wie in Kanada reduzieren."

Zugleich warnte Brugger davor, Lawinenopfer vorschnell für tot zu erklären. Wie er in mehreren Studien gezeigt hat, kann es sein, dass gerade die extrem schnelle und starke Abkühlung bei einem Lawinenunfall dazu führt, dass die Opfer selbst einen längeren Atem- und Herzstillstand ohne Gehirnschäden überstehen.

Brugger schildert den Fall eines 29-jährigen Skifahrers, der in den italienischen Ostalpen verschüttet worden war, dabei allerdings über eine kleine Atemhöhle verfügte: Als er nach 100 Minuten aus drei Metern Tiefe ausgegraben wurde, war er bewusstlos, seine Körpertemperatur betrug 22 Grad, sein Herz stand zweieinhalb Stunden still - dennoch konnte der Patient nach 17 Tagen beschwerdefrei aus der Klinik entlassen werden.

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Quelle:
SZ vom 22.03.2011
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