Ressourcenknappheit:Wie lange der Ölzauber noch währt

In der Energiebranche machen derzeit aufsehenerregende Meldungen die Runde. Neue Technologien werden ganz neue Ölquellen ausbeuten können, glauben einige Experten.

Richard Kerr

In der Ölbranche werden seit Kurzem euphorisch Gerüchte weitergetragen, die von einem neuen Überfluss berichten. Bessere Technologie habe eine Wende gebracht: Diese erlaube es, Ölsande in der kanadischen Provinz Alberta auszubeuten, Öl aus dem Untergrund des US-Staats North Dakota zu pressen und besonders tiefe Reservoirs unter dem Golf von Mexico anzubohren. Im Juni erschien dann der Report eines Harvard-Forschers, der von der "nächsten Revolution" im Ölgeschäft sprach und den Optimismus so richtig anheizte. "Die Zustände haben sich fundamental und für immer geändert", schwärmten daraufhin die Chefs des Oil & Gas Journal, des wichtigsten Fachblatts der Branche.

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Experten streiten, wann die Erdöl-Vorräte endgültig zur Neige gehen.

(Foto: AFP)

Die euphorische Botschaft des Berichts beruht auf mehr als nur dem Vertrauen auf neue - und teure - Technologie. Der Autor Leonardo Maugeri bescheinigt vor allem den existierenden Ölquellen, die teilweise seit Jahrzehnten genutzt werden, mehr Potenzial als viele andere Fachleute (scim.ag/ LMaugeri). Der Ökonom Maugeri war früher Topmanager beim italienischen Ölkonzern Eni und ist zurzeit Fellow an der Kennedy School der Harvard University. Er hält die Rate, mit der die Ölgewinnung aus den bekannten Quellen sinkt, für nur halb so hoch, wie es der Rest der Fachwelt seit Jahrzehnten berichtet.

Maugeris Report hat geteilte Resonanz gefunden. Die Industrie begrüßt ihn, die Firmen argumentieren ohnehin schon lange, der Fortschritt der Technologie werde auch in Zukunft keine Versorgungsengpässe aufkommen lassen. Unabhängige Analytiker kritisieren hingegen die Berechnungen des Italieners. Zum Beispiel nennt der Energieexperte Steven Sorrell von der University of Sussex in Großbritannien Maugeris Zahlen schlicht "falsch".

Weil einmal angestochene Quellen im Lauf der Jahre immer weniger Öl liefern, muss die Ölbranche stets neue Lagerstätten finden und erschließen, wenn sie das Angebot auf dem Weltmarkt auch nur konstant halten will. Maugeri setzt nun die mittlere Abnahme der Produktionsmenge auf zwei Prozent pro Jahr an. Er stützt sich dabei auf eine private Datenbank, die er in seiner Zeit bei Eni aufgebaut hat. Darin stehen Angaben zu 1100 Ölfeldern in 23 Ländern, die mehr als 80 Prozent des derzeit weltweit vermarkteten Öls liefern. Für jedes Ölfeld verzeichnet Maugeris Zahlenwerk den bisherigen Ausstoß (ein ziemlich genau bekannter Wert), aber auch die geplante künftige Produktion und die Höhe der Investitionen, die dafür bereitgestellt worden sind.

Zuvor hatten wichtige Studien eine doppelt so hohe Abnahmerate wie Maugeri ermittelt. Die Internationale Energieagentur IEA war 2008 auf 4,1 Prozent pro Jahr gekommen, und laut der Beratungsfirma IHS Cera im englischen Cambridge produzierten die Quellen im Mittel jährlich 4,5 Prozent weniger als im Jahr zuvor. 2009 kam der Forscher Mikael Höök von der Universität Uppsala zu einem ähnlichen Resultat. Im Januar 2012 schließlich hat der Brite Sorrell mit Kollegen die drei Analysen verglichen und ihnen eine angemessene Übereinstimmung attestiert. "Die jährliche Abnahme aller aktiven Felder liegt bei mindestens vier Prozent" sagt er.

"Ich bleibe dabei, es sind nicht mehr als zwei Prozent", kontert Maugeri. "Die historische Entwicklung zeigt, dass mit den Abnahmeraten, die in der Vergangenheit verkündet wurden, nicht einmal die augenblickliche Produktion zu erklären ist." Er erwartet sogar, dass die täglich geförderte Menge von heute 78 Millionen Barrel (à 159 Liter) bis 2020 auf 86 Millionen Barrel steigen wird.

Nischenproduktion

Eine jährliche Abnahme von vier Prozent bedeutet, dass im Verlauf von drei Jahren das Äquivalent der gesamten saudischen Produktion - zurzeit neun Millionen Barrel am Tag - ersetzt werden muss, nur um das globale Ölangebot konstant zu halten. Das sei auch von neuer Technologie viel verlangt, sagen Sorrell und seine Kollegen.

Hinzu kommt: Der Ertrag der großen Ölfelder, die seit Jahrzehnten produzieren, dürfte am Ende ihrer Ausbeutbarkeit besonders schnell abnehmen, besagen alle Studien. Die Konzerne ersetzen die großen Felder bereits durch viele kleine und Tiefseequellen, deren Ertrag wegen der Verhältnisse im Untergrund ohnehin schneller abnimmt. Im besten Fall sei es "wahrscheinlich schon eine große Herausforderung, die Produktion konstant zu halten".

Wie aber ist es möglich, dass dieselben Daten Maugeri einen optimistischen Ausblick ermöglichen und sonst Verhängnis und Schwermut erzeugen? Maugeri sagt: "In manchen Feldern ist der Unterschied in der Bewertung durch den Gebrauch neuer Technik zu erklären. Viele machen gerade einen Prozess der technischen Verbesserung durch." Die Ölkonzerne und Bohrfirmen haben gelernt, bisher übersehene Nischen mit Öl in und um die bekannten Felder herum zu finden und mehr Öl aus dem Gestein zu saugen. Außerdem lassen sich zuvor als unnutzbar geltende Reservoirs ausbeuten. Die Fracking-Technik, bei der mit hohem Druck Gänge in poröses Gestein gepresst werden, befreit das sogenannte North Dakota Tight Oil (wörtlich übersetzt: enges oder schwergängiges Öl).

Sorrell und die anderen aber bleiben bei ihrer Kritik. "Maugeri hat einige sehr optimistische Annahmen gemacht, sie nicht ausreichend begründet und die Schätzungen anderer Fachleute falsch dargestellt", schrieben Sorrell und Christophe McGlade vom University College London vor einigen Wochen (scim.ag/Oilcomments). Peter Jackson von IHS Cera ergänzt: "Wir haben eine ganz klare Analyse, die den Verlauf der Produktion von 2000 bis 3000 Feldern benutzt. Man kann nicht viel machen, um diese Trends zu ändern."

Letztlich wird der Bohrkopf den Streit entscheiden. Falls der jährliche Rückgang tatsächlich kleiner ist als lange behauptet, dann müsste das Öl aus neuen Quellen - zum Beispiel aus dem kanadischen Ölsand und brasilianischen Tiefseebohrungen - die Produktionsmengen der Länder außerhalb es Opec-Kartells erhöhen. Bisher ist das nicht geschehen. Obwohl die hohen Preise genug Anreiz bieten, stagniert das Angebot von Rohöl aus Nicht-OpecStaaten.

Dieser Text ist in der aktuellen Ausgabe von Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin der AAAS. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, www.aaas.org. Dt. Bearbeitung: cris

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