Gesunkene Corona-Ansteckungsrate:Was eine Reproduktionszahl unter 1,0 bedeutet

Lesezeit: 5 Min.

  • Die Ansteckungsrate mit dem neuartigen Coronavirus ist in Deutschland nach Angaben des Robert Koch-Instituts deutlich gesunken.
  • Das heißt: Ein Infizierter gibt das Virus derzeit im Durchschnitt an weniger als einen anderen Menschen weiter.
  • Ab einer Reproduktionszahl über 1 droht die Ausbreitung wieder exponentiell zu verlaufen und damit in rasantem Tempo.
  • Schon ein Wert von 1,3 würde die Krankenhäuser im Juni an ihre Belastungsgrenze bringen, sagte Kanzlerin Merkel.

Von Christina Berndt

Die beste Nachricht des Tages hat eine Null vor dem Komma. In der Corona-Krise sei die Reproduktionszahl nunmehr auf 0,7 gesunken, vermeldete das Robert-Koch-Institut in seinem täglichen Lagebericht. Die Zahl der Neuerkrankungen gehe also leicht zurück. Aber was bedeutet diese Zahl eigentlich? Wo ist die bislang noch so wichtige Verdoppelungszeit geblieben? Und weshalb gibt das RKI als Deutschlands oberste Behörde zur Überwachung von Infektionskrankheiten nun trotzdem keine Entwarnung? Die SZ erklärt, welche statistischen Größen sinnvoll sind, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 im Auge zu behalten.

Errechnung der Reproduktionszahl

Die Bestimmung der Reproduktionszahl, umgangssprachlich Ansteckungsrate genannt, ist nur ein statistisches Hilfsmittel, um die Ausbreitung der Corona-Epidemie beruteilen zu können. Sie fußt auf der Zahl der Neuinfektionen, die allerdings mit Unsicherheiten behaftet ist. Das Robert-Koch-Institut spricht deshalb davon, dass die Reproduktionszahl "geschätzt" wird. Dennoch ist die Reproduktionszahl in der aktuellen Phase der Epidemie ein sehr hilfreicher Parameter. Denn sie sagt aus, wie viele weitere Menschen ein Infizierter ansteckt.

Die natürliche Ansteckungsrate ist die Basisreproduktionszahl R0. Diese gibt an, wie viele Menschen jeder einzelne Patient ansteckt, wenn dem Virus freier Lauf gelassen wird und noch niemand immun dagegen ist. Für Sars-CoV-2 liegt diese Zahl nach aktuellem Forschungsstand zwischen 2,4 und 3,3. Ein Infizierter gibt das Virus also üblicherweise an zwei bis drei Menschen weiter, das ist im Vergleich zu anderen Infektionskrankheiten nicht wenig, aber auch nicht besonders viel. Mit den Ausgangsbeschränkungen, Geschäfts- und Schulschließungen haben Regierungen in aller Welt in den vergangenen Wochen versucht, diesen natürlichen Verlauf zu bremsen und die Reproduktionszahl zu drücken. Ein Infizierter sollte schlichtweg nicht mehr auf so viele Menschen treffen.

Nun ist für Deutschland ein Etappenziel erreicht. Nach Berechnungen des RKI liegt die Reproduktionszahl, auch R genannt, aktuell etwa bei 0,7. Ein Infizierter gibt das Virus derzeit im Durchschnitt an weniger als einen anderen Menschen weiter, die Zahl der Neuinfektionen nimmt also ab. Sollte die Reproduktionszahl durch die Lockerung der Maßnahmen aber wieder steigen, bedeutet dies, dass sich der Erreger wieder stärker ausbreitet. Bei einer Reproduktionszahl gleich eins bleibt die Ausbreitung konstant, bei einem Wert größer eins nimmt die Ausbreitung zu. Je höher die Zahl wird, desto rasanter das Tempo. Schon ein Wert von 1,3 würde die Krankenhäuser im Juni an ihre Belastungsgrenze bringen, sagte Kanzlerin Merkel.

Kleine Unterschiede in der Reproduktionszahl können also große Auswirkungen haben. Deshalb ist es wichtig zu wissen, dass auch die Berechnung der Reproduktionszahl fehleranfällig ist. Noch dazu lässt sie sich auf verschiedenen Wegen ermitteln. Vereinfacht gesagt, berechnen die Wissenschaftler des Robert-Koch-Instituts diese Zahl, indem sie davon ausgehen, dass ein Infizierter andere Menschen im Durchschnitt vier Tage nach seiner eigenen Infektion ansteckt. Deshalb vergleichen sie die gemeldeten Neuinfektionen eines Tages mit der Zahl der vor vier Tagen gemeldeten Neuinfektionen, um die Reproduktionszahl zu ermitteln. Aber auch wenn die Zahl letztlich nur das Ergebnis eines statistischen Kniffs ist, lässt sich aus der Entwicklung der täglich neu errechneten Zahl der Trend der Ausbreitung ablesen.

Verdoppelungszeit der Infektionen

Bis vor kurzem galt die Verdoppelungszeit als Nonplusultra zur Erfassung des Infektionsgeschehens. Auch die SZ hat in ihren Grafiken zum Verlauf der Epidemie diesen Wert angegeben. Er besagt, nach wie vielen Tagen sich die Zahl der Infizierten auf das Zweifache erhöht. Doch die Berechnung der Verdoppelungszeit ist nicht unproblematisch, es gibt verschiedene Modelle dafür.

Vor allem aber schwindet die Bedeutung dieses Werts umso mehr, je besser die Ausbreitung des Virus in Schach gehalten wird. Denn die Verdoppelungszeit ist zwar gut geeignet, um exponentielle Wachstumsprozesse zu beschreiben; wenn sich das Virus langsamer ausbreitet, erlaubt sie hingegen keine gute Einschätzung. Aufgrund der vielfältigen Maßnahmen gegen die Corona-Epidemie lässt sich in Deutschland und in vielen anderen Ländern derzeit keine exponentielle Ausbreitung des Virus mehr feststellen. Das ist eine gute Nachricht und deutet darauf hin, dass die getroffenen Maßnahmen ihre Wirkung zeigen. Aber die Verdopplungszeit ist dadurch kein guter Indikator mehr.

Zahl der Neuinfektionen

Diese Zahl vermittelt einen sehr überzeugenden Eindruck von der Ausbreitung des Virus. Sie besagt schlicht und ergreifend, wie viele Menschen sich täglich neu anstecken. Solange sie weiter fällt oder zumindest konstant bleibt, ist das Virus einigermaßen unter Kontrolle. Steigen die Neuinfektionen wieder an, droht eine erneute exponentielle Wachstumsphase.

Das Problem ist allerdings, dass niemand die Zahl der Neuinfektionen wirklich kennt. "Naturgemäß kann niemand die tatsäch­liche Anzahl der erfolgten Infektionen genau wissen oder be­stimmen", schreibt das Robert-Koch-Institut. Zwar werden in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern sehr viele Menschen darauf getestet, ob sie sich mit dem neuartigen Coronavirus angesteckt haben. Aber viele Fälle bleiben auch im Dunkeln, weil nicht alle Menschen Symptome zeigen und auch nicht alle Menschen mit Symptomen zum Arzt gehen. Noch dazu gibt es eine Verzögerung zwischen der Ansteckung und der Entdeckung einer Infektion. Wissenschaftler gehen davon aus, dass Menschen erst fünf Tage nach ihrer Ansteckung Symptome zeigen, aber schon zwei Tage vor Ausbruch der Infektion für andere Menschen ansteckend sind. Kein Erhebungssystem kann also, und sei es noch so gut, ohne zusätzliche Annahmen und Berechnungen eine Aussage über das aktuelle In­fektionsgeschehen machen.

Immunität der Bevölkerung

Auf längere Sicht würde die Reproduktionszahl auch von alleine sinken. Denn je mehr Menschen gegen Sars-CoV-2 immun sind, desto weniger können sich bei einem Infizierten anstecken, die Ausbreitung des Virus nimmt ab. Damit die Zahl der Neuinfektionen ohne weitere Maßnahmen sinkt, müssen etwa zwei Drittel aller Menschen immun gegen das neue Corona-Virus sein, sie müssen die Krankheit also durchgemacht haben oder durch einen Impfstoff geschützt sein, den es allerdings noch nicht gibt. Dann ist die sogenannte Herdenimmunität erreicht, durch die das Virus ganz natürlich in Schach gehalten wird. Ein Infizierter könnte in diesem Fall nur noch sehr wenig andere Menschen anstecken.

Deshalb wäre es zur Abschätzung der aktuellen Gefahr durch das neue Coronavirus gut zu wissen, wie groß die Immunität in der Bevölkerung derzeit ist. Das ist allerdings derzeit noch völlig unbekannt. Mehrere Studien versuchen dies mit Hochdruck zu klären, indem sie nach Antikörpern gegen Sars-CoV-2 im Blut der Bevölkerung fahnden.

Für den besonders stark von Covid-19 betroffenen Ort Gangelt im nordrheinwestfälischen Kreis Heinsberg hatten Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Bonn vor Kurzem berichtet, dass 15 Prozent der Einwohner immun sein könnten, doch die Aussagekraft dieses Ergebnisses ist umstritten. Zudem ist dieser Wert nicht auf andere deutsche Regionen mit einem weniger dramatischen Infektionsgeschehen übertragbar, hier wird die Immunität der Bevölkerung niedriger ausfallen als im Hotspot Heinsberg.

Belegung der Intensivbetten

Ein besonders wichtiges Ziel der Maßnahmen gegen das neue Coronavirus ist es, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Denn solange Erkrankte auf beste medizinische Hilfe hoffen können, wird sich die Zahl der besonders schweren Fälle und der Todesfälle durch Sars-CoV-2 in Grenzen halten. Deshalb wären auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen und die Belegung der Intensivbetten gute Indikatoren zur Kontrolle des Infektionsgeschehen.

Derzeit wird allerdings die Zahl der freien Intensivbetten in Deutschland nicht flächendeckend erfasst. Zwar gibt es ein entsprechendes Intensivregister, doch hier beteiligen sich bisher nicht alle Kliniken, auch erfolgen die Meldungen in der Regel verzögert. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat vor Kurzem angeordnet, dass alle Krankenhäuser künftig die freien Betten an das Register melden sollen, um die Entwicklungen in den Kliniken zentral überwachen zu können.

© SZ.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Coronavirus in Deutschland
:Niedersachsen: Schweden-Rückkehrer müssen in Quarantäne

Zwischenzeitlich waren die Quarantäne-Regelung für Menschen, die aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehren, gelockert worden. Nun hat die Regierung in Hannover sie wieder verschärft.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: