Religion:Kann Glaube heilen?

Lesezeit: 6 min

Straube: Ja, aber Meditation ist eben nur ein Teil. Glauben ist sehr viel komplexer. Zudem ergeben sich je nach Kulturkreis und Religion unterschiedliche Zugänge zum Höheren.

Religion: Jenseits des Alltags: Weltjugendtag in Köln. Das gemeinsame Gebet stimuliert und begeistert - es vermittelt Erfahrungen, die aus dem Alltag herausführen.

Jenseits des Alltags: Weltjugendtag in Köln. Das gemeinsame Gebet stimuliert und begeistert - es vermittelt Erfahrungen, die aus dem Alltag herausführen.

(Foto: Foto: ddp)

Zum Beispiel heilen afrikanische Medizinmänner oder europäische Geistheiler oft mit drastischen Mitteln, die den Patienten sehr aufwühlen.

Hier verbessert nicht die beruhigende Meditation das Befinden. Der christliche Gelehrte Thomas von Aquin meinte, "ein kräftiger Stoß ins System" wäre eine der Ursachen von Heilwundern. Doch trotz verschiedener Heilrituale hilft Glaube ganz offensichtlich kulturübergreifend.

SZWissen: Es muss also doch etwas Verbindendes geben.

Straube: Ja, immer wird ein psychologisches beziehungsweise psycho-biologisches Selbsthilfesystem angesprochen. Das klappt sogar, ohne dass wir an einen bestimmten Gott denken.

Und selbst im profanen Bereich funktioniert der Glaube an einen prestigeträchtigen Helfer: Der Besuch beim Arzt kann das Befinden bereits verändern, ohne dass Medikamente verabreicht werden oder der Mediziner eine spezielle Behandlung beginnt.

SZWissen: Was unterscheidet dann Gott von einem Arzt?

Straube: Beim religiösen Glauben kommt etwas hinzu, was viel stärker sein kann. Religionswissenschaftler nennen das "tremendum" und "fascinosum".

Das heißt, Glauben ist mit sehr viel mächtigeren imaginativen und emotionalen Elementen sowie stärkerer Ergriffenheit verbunden als etwa eine ärztliche Behandlung.

Viele Religionen appellieren besonders an psychische Systeme, die jenseits der Ratio liegen.

SZWissen: Ist der Glaube an Gott somit nicht nur ein Trick?

Straube: Glaube ist kein Trick, sondern eine mit Respekt zu behandelnde intime Existenzform des Menschen. Wenn man sich das ansieht, was beim religiösen Heilen passiert, könnte man diese Form des Heilens allenfalls als nützlichen Trick der Natur bezeichnen.

Dass Selbstheilungstendenzen fast automatisch anspringen, wenn wir uns einem überzeugenden Helfer gegenüber sehen, war für den Menschen während seiner Evolution ein Überlebensvorteil.

Dafür sorgten in der Jäger- und Sammler-Periode etwa die Schamanen. Ich bin überzeugt, dass einer der entscheidenden Überlebensvorteile des Homo sapiens seine Fähigkeit war, auch ohne spezifische Medikamente schon in der frühen Steinzeit zu überleben - eben durch das religiöse Heilritual.

SZWissen: Und daran hat sich im Lauf der Menschheitsgeschichte wenig geändert?

Straube: Ja, faszinierenderweise. Das sagt viel über die Macht des Glaubens aus. Das Prinzip wurde über die Jahrtausende im Menschen aufrechterhalten, gegen die Aufklärung, gegen alle Widerstände moderner Wissenschaften.

Glaube ist ein Selbstläufer. Der Mensch hat einen Vorteil, wenn er die bisweilen engen rationalen Grenzen überschreitet, wenn er sich über den Alltag, das Konkrete, Nützliche hinauswagt. Wenn er herumspinnt und sich auf den Grenzbereich verrückter Ideen einlässt. Er verlässt dabei die Ebene, auf der eine geordnete Abfolge von Schlussfolgerungen zum Ziel führt. Diese Prozesse jenseits der Ratio sind wichtiger, als man bei oberflächlicher Betrachtung ahnt.

SZWissen: Irrationalität ist sinnvoll?

Straube: Warum fühlen wir uns von einem Rilke-Gedicht angezogen, warum von einem Musikstück, warum von einem Van-Gogh-Gemälde? All das sind oberflächlich betrachtet nutzlose Dinge - wie der Glaube.

Dennoch kommen selbst Naturwissenschaftlern diese grenzwertigen geistigen Systeme jenseits der reinen Ratio zu Hilfe. Der Physiker Michael Green etwa erstellte eine neue kosmologische Theorie, die Superstringtheorie, nachdem ihm unverständliche, verrückte Bilder in den Sinn gekommen waren.

Unsere Fähigkeit zur geistigen Grenzüberschreitung war immer wichtig in der Menschheitsgeschichte. Auch das Heilen mittels Religion ist eine solche Grenzüberschreitung.

SZWissen: Laut einer Emnid-Umfrage glauben 42 Prozent der Bundesbürger an "magische Kräfte". Warum hält sich dieser Glaube, obwohl es zuhauf etablierte Therapien für Krankheiten gibt?

Straube: Der Boom spiritueller Techniken ist eine Gegenreaktion zur Dominanz rationaler Bewältigungsstrategien in modernen Zivilisationen. Die Suche nach Dingen jenseits der technisierten Welt führt dazu, dass wir imaginative Formen wiederentdecken, etwa Heilige und Reliquien verehren.

Allein Papst Johannes Paul II. hat fast 500 Menschen heilig und 1500 selig gesprochen, so viele wie kein Papst vor ihm seit 1588. Die Heiligen sind für katholische Christen dann so etwas wie überirdische Helfer und stimmen die Gläubigen positiv.

SZWissen: Wie sehr diese Erwartungshaltung etwa das Schmerzempfinden bestimmt, zeigen aktuelle Studien. Das Gehirn kann den Schmerz formen, offenbar sowohl verstärken wie lindern. Haben gläubige Menschen hier Vorteile?

Straube: Im Schmerzzentrum des Gehirns sorgen dieselben Regionen sowohl für die Empfindung somatischer als auch psychischer Schmerzen. So genannte Wunderheiler machen sich genau diesen Effekt zunutze, indem sie den Leuten vorgaukeln, der Schmerz sei verschwunden - und die Menschen glauben das tatsächlich. Sogar ein charismatischer Scharlatan kann Effekte erzielen, weil das Gehirn dankbar ist für jeden geeigneten Hinweis der Hoffnung.

SZWissen: Mit solchen Tricks lassen sich aber noch lange keine Wunder erklären wie die aus dem Wallfahrtsort Lourdes. Dort gab es bislang 66 anerkannte Wunderheilungen, fast zwei Drittel vor dem 1. Weltkrieg, dreizehn in den ersten zehn Jahren nach dem 2. Weltkrieg.

Straube: Die medizinische Kommission in Lourdes hat diese Fälle sehr genau untersucht. Würde man rein statistisch argumentieren, wirkt die Quote dürftig: 66 Heilungen auf 8,4 Millionen Patienten ist nicht eben viel.

Wäre Lourdes ein Sanatorium, müsste man es sofort schließen. Interessant aber ist doch, dass die Kirche solche belegten Wunder nicht als Beweis braucht. Im Gegenteil: Sie tut sich damit keinen Gefallen - weil sie sich in die Hand naturwissenschaftlicher Fragestellungen begibt.

Dabei liegt religiösem Glauben ein anderer Wahrheitsbegriff zugrunde als den Naturwissenschaften.

SZWissen: Welche Bedeutung messen Sie solchen Wundern bei?

Straube: Für mich sind Wunder in erster Linie ein Beleg dafür, wie wichtig das subjektive Empfinden ist. Orte wie Lourdes bieten überirdische Kraftquellen. Man kniet an den Orten des Wunders nieder, ist in der stimulierten Masse, betet gemeinsam. Kurz: Es entsteht eine besondere Situation - anders als zu Hause im stillen Kämmerlein.

Gucken Sie sich die Begeisterung auf dem Weltjugendtag an, in derart stimulierenden Situationen machen Menschen besondere, aus dem Alltagserleben herausführende Erfahrungen.

SZWissen: Wunder sind also nicht mehr als extreme, subjektive Zustände.

Straube: Ja, und es ist außerordentlich faszinierend, dass es solche Zustände gibt. Ob das einem Gott zuzuschreiben ist oder nicht, ist für mich nicht entscheidend. Ich sehe das als Hinweis auf die menschliche Konstitution. Für mich sind nicht die Zahlen entscheidend, etwa dass selbst bei Krebserkrankungen Spontanremissionen vorkommen. Spannend ist die Möglichkeit, die hier sichtbar wird.

SZWissen: Gibt es bald das Wunder auf Krankenschein?

Straube: Medizinisch sind die dahinter stehenden Prozesse bislang nur unzureichend erklärt worden. Auch die Psychologie hat diesen Bereich lange vernachlässigt. Doch wir sind eben nicht nur rationale Wesen. Und unser Leben ist nicht mit Computermodellen zu verstehen.

Zur SZ-Startseite