Manchmal muss man einfach Glück haben. Zum Beispiel dann, wenn man mit viel Aufwand einen riesigen Detektor im Mittelmeer baut, um damit Spuren von Neutrinos aus dem All aufzufangen.
Zwar lässt die Sonne die rätselhaften Geisterteilchen in jeder Sekunde milliardenfach auf jeden Quadratzentimeter Erdoberfläche prasseln, aber sie wechselwirken kaum mit Materie. Luft, Wasser, Fels – durch alles schießen sie hindurch und lassen sich deshalb auch schlecht nachweisen. Ähnlich schwer nachweisbar, aber viel seltener sind die spannenderen Neutrinos mit sehr hohen Energien, die aus den Tiefen des Alls kommen. Man sucht also mal wieder die Nadel im Heuhaufen, aber im Dunkeln. Eben darum braucht man Glück: Das Glück zum Beispiel, dass so ein rasend schnelles Neutrino im richtigen Moment und im richtigen Winkel auf die Erde trifft und ausnahmsweise doch mal irgendwo auf seinem Weg durch den Planeten eine Reaktion auslöst. Die wiederum ein neuer Detektor registriert, der in diesem Moment noch nicht einmal fertig ist.
So ging es Forschern um Paschal Coyle vom Centre de Physique des Particules in Marseille am 13. Februar 2023. Coyle war zum Zeitpunkt der Entdeckung Sprecher des Teams des Observatoriums KM3neT, das mit zwei derzeit noch im Aufbau befindlichen Neutrino-Detektoren im Mittelmeer arbeitet: Arca vor Sizilien und Orca vor Südfrankreich. Aufgefangen hat das Signal der Arca-Detektor. Diese Detektoren liegen tief im Meer, denn man braucht für die verräterischen Lichtblitze, die solche Teilchen anzeigen, ein großes Volumen an Wasser oder Eis. Schon im vergangenen Sommer hatte Coyle von dem Ereignis berichtet, nun wurden die Ergebnisse der Analyse im Wissenschaftsjournal Nature veröffentlicht – und sie sind tatsächlich erstaunlich.
„Ein neues Beobachtungsfenster ins Universum“
Das damals aufgefangene Neutrino war laut den Forschern mehr als zehnmal energiereicher als der bisherige Rekordhalter, der im Icecube-Detektor am Südpol registriert wurde. Gemessen wurde es indirekt: Die Signale im Detektor führen die Forscher auf ein sehr energiereiches anderes Teilchen zurück, ein Myon. Dieses muss nicht allzu weit vom Detektor im Wasser oder im Gestein erzeugt worden sein, und als Auslöser dieser Reaktion kommt eigentlich nur ein Neutrino infrage, das auf ein Atom geprallt ist. Die Energie des Neutrinos schätzen die Forscher auf 220 Peta-Elektronenvolt. Das ist grob geschätzt die Bewegungsenergie eines Tischtennisballs, der mäßig fest geschlagen wurde. Nur dass die Energie hier von einem Teilchen transportiert wird, dessen Masse so klein ist, dass man noch bis in die Neunzigerjahre dachte, es habe vielleicht gar keine.
Die Messung ist der erste Nachweis, dass im Universum überhaupt derart energiereiche Neutrinos produziert werden. Die Entdeckung eröffne ein neues Kapitel der Neutrino-Astronomie und ein neues Beobachtungsfenster ins Universum, sagt Paschal Coyle laut einer Mitteilung der Detektor-Forschungsgruppe. Die Hoffnung ist, dass weitere solche Raser-Teilchen beobachtet werden und sich aus diesen Messungen dann darauf schließen lässt, was in den Tiefen des Alls passiert, wenn sie erzeugt werden. Schließlich können sie das Universum mit all dem Gas und Staub darin anders als Licht oder andere Teilchen weitgehend ungestört durchqueren.
Die zentrale Frage ist nun jedoch, wo dieses erstaunliche Teilchen herkam. Bislang konnten die Forscher keine eindeutige Quelle identifizieren, was auch an der nicht besonders genauen Messung der Richtung liegt, aus der das Teilchen kam. Es ist aber auch noch völlig unklar, wann und wie so schnelle Neutrinos überhaupt entstehen.
Vielleicht kommt es auch gar nicht aus einer fernen Galaxie: Wie das Team um Coyle mutmaßt, könnte es auch entstanden sein, als ein anderes schnelles Teilchen auf die kosmische Hintergrundstrahlung traf, den Nachhall des Urknalls, der das All noch heute erfüllt. „Auch wenn ein vollständiges Verständnis des Ursprungs dieses Ereignisses noch Zeit brauchen wird, bleibt es eine erstaunliche Willkommensnachricht für KM3neT“, schreibt der Physiker Erik K. Blaufuss in einem Begleitkommentar für Nature.