Süddeutsche Zeitung

Biologie:Das geheime Leben des Regenwurms

Regenwürmer sind enorm wichtig für einen gesunden Boden - und damit für die gesamte Natur. Doch obwohl jeder die widerstandsfähigen Tiere kennt, ranken sich zahlreiche Mythen um sie.

Von Tina Baier

Jetzt im Frühjahr sind Regenwürmer besonders aktiv. Unermüdlich graben und bohren sich die Tiere, die zum Stamm der Ringelwürmer gehören, kreuz und quer durch den Boden. Auf diese Aktivität bezieht sich möglicherweise auch ihr Name, der sich einer Theorie zufolge von "reger Wurm" ableitet und nichts mit dem Phänomen zu tun hat, dass die Tiere bei starken Regenfällen in Massen an die Oberfläche kommen. Überhaupt ist überraschend wenig bekannt über die Tiere, die wohl jeder schon mal gesehen hat und deshalb gut zu kennen glaubt.

Wie viele verschiedene Arten gibt es?

Regenwurm ist nicht gleich Regenwurm. Bekannt und wissenschaftlich beschrieben sind weltweit etwa 3000 verschiedene Arten. Schätzungen zufolge gibt es aber viel mehr. "Ich gehe davon aus, dass 80 Prozent noch gar nicht entdeckt sind", sagt Nico Eisenhauer, Bodenökologe am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig.

Eisenhauer war an einer weltweiten Regenwurm-Studie beteiligt, die kürzlich im Wissenschaftsjournal Science erschienen ist. Das Mammutwerk, in das das Wurmwissen von 141 Autoren und Autorinnen eingeflossen ist, zeigt: Die Artenvielfalt von Regenwürmern folgt anderen Gesetzen, als die von jenen Tieren, die über der Erde leben. Oberirdisch nimmt die Anzahl der Arten zu, je näher man dem Äquator kommt. In den Tropen gibt es daher die meisten verschiedenen Spezies. Doch bei Regenwürmern ist es genau umgekehrt: Die meisten Arten leben in Europa, dem Nordosten der USA und in Neuseeland.

Welche Regenwürmer leben in Deutschland?

Allein in Deutschland kommen 46 Arten vor. "Wer in seinem Garten gräbt, kann dort bis zu zehn unterschiedliche Regenwurmspezies finden", sagt Eisenhauer. Wenn man einen Regenwurm an der Erdoberfläche sieht, ist es meistens Lumbricus terrestris , der Gemeine Regenwurm; auch Tauwurm genannt. Er wird bis zu 30 Zentimeter lang und ist an seinem rötlichen Vorderende und seinem blassen Hinterteil zu erkennen. Am liebsten gräbt er in lehmigen Böden.

Der etwas kleinere Kompost- oder Stinkwurm (Eisenia fetida) fühlt sich in Komposthaufen und reichhaltiger Gartenerde am wohlsten. Er ist purpurfarben und hat eine rote oder braune Querbinde auf jedem Körpersegment. Weniger bekannt, aber ebenfalls häufig ist der Kleine Wiesenwurm (Aporrectodea caliginosa), der in vielen verschiedenen Bodentypen zu finden ist. Der grün gefärbte Alpenregenwurm hingegen mag es feuchtkalt und lebt ausschließlich in den Fichtenwäldern der Alpen.

Machen Regenwürmer alle dasselbe?

"Grundsätzlich unterscheidet man drei verschiedene Bereiche im Boden, in denen sich Regenwürmer aufhalten", sagt Eisenhauer. Sogenannte epigäische Arten leben an der Bodenoberfläche oder wenige Zentimeter darunter. Sie kommen häufig ans Tageslicht und tragen zum Schutz vor der UV-Strahlung Pigmente. Ein Beispiel ist der sieben bis 15 Zentimeter lange, leuchtend rote Laubwurm (Lumbricus rubellus), der im Waldlaub und in vermoderten Baumstümpfen wohnt.

Endogäische Arten sind dagegen meist bleich, weil sie tief in der Erde im oberen Bereich des Mineralbodens leben und so gut wie nie an die Oberfläche kommen. Sowohl epigäische als auch endogäische Arten graben sich in horizontaler Richtung kreuz und quer durch ihren Lebensraum. Ihre Gänge bleiben oft nicht lange bestehen, werden zugeschüttet oder vom Kot der Tiere wieder verstopft. Ganz anders die anözischen Arten, zu denen der in Deutschland häufige Lumbricus terrestris gehört. Der Tauwurm legt langfristig bestehende vertikale Röhren an, die von der Oberfläche mehrere Meter tief in die Erde reichen. Die Wände seiner Röhren tapeziert der Wurm mit Schleim und Exkrementen und stabilisiert sie so. Es gibt aber auch Arten, die im Wasser leben können, zum Beispiel Eiseniella tetraedra.

Was fressen Regenwürmer?

Die Tiere ernähren sich fast ausschließlich von Blättern, abgestorbenen Pflanzenresten und Mikroorganismen. An einem einzigen Tag verschlingen sie die Hälfte ihres Körpergewichts. Tauwürmer kommen nachts mit ihrem Vorderteil aus der Erde. Sie saugen sich an Blättern oder Blattstielen fest, kriechen dann rückwärts, ziehen das angesaugte Blatt in ihre Wohnröhre und kleben es mit Schleim fest. Ein einziges Tier kann so pro Nacht bis zu 20 Blätter in seine Wohnröhre befördern. Weil die Würmer keine Zähne haben, fressen sie die Blätter aber nicht sofort, sondern müssen warten, bis Mikroorganismen sie in mundgerechte Teile zersetzt haben.

Wie viele Regenwürmer leben im Boden?

Die Zahl schwankt und hängt stark von der Beschaffenheit des Bodens ab. In Extremfällen kann die Wurmdichte bis zu 2000 Individuen pro Kubikmeter Erde erreichen. "Durchschnittlich findet man in einem Kubikmeter gesunden Boden etwa hundert Regenwürmer", sagt Julian Heiermann, der beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu) für Umweltthemen zuständig ist.

Würde man die Gänge all dieser Würmer aneinanderlegen, ergäbe sich eine 20 Meter lange Röhre. Vielerorts ist die Biomasse der Regenwürmer höher als die aller anderen dort lebenden Tiere zusammen. In sandigen und sehr sauren Böden gibt es aber oft gar keine Regenwürmer.

Warum sind Regenwürmer nützlich?

Das ständige Graben und Fressen der Tiere ist für die Landwirtschaft ebenso wichtig wie die Bestäubung von Pflanzen durch Insekten. Die Tiere düngen den Boden sozusagen von unten, weil sie organisches Material, das viele Nährstoffe enthält, in die Tiefe ziehen und es dort zerkleinern. Zusammen mit den Pflanzenresten fressen Regenwürmer immer auch Erde mit. In Böden mit vielen Regenwürmern passiert Schätzungen zufolge innerhalb von zwölf Jahren eine 2o Zentimeter dicke Bodenschicht den Darm der Tiere - und kommt versetzt mit verdautem Pflanzenmaterial, nützlichen Pilzen und Bakterien hinten wieder heraus.

Der Kot der Würmer ist ein besserer Dünger als Komposterde. Gut für Pflanzen ist zudem, dass durch die Gänge der Tiere sowohl Luft als auch Wasser in den Boden gelangt. Viele Gewächse nutzen die Gänge auch, um ihre Wurzeln darin ohne großen Widerstand wachsen zu lassen. So sparen die Pflanzen Energie, die sie dann anderswo einsetzen können. Ähnlich wie Insekten sind Regenwürmer zudem eine Art Grundnahrungsmittel für viele andere Tiere, gerade jetzt im Frühjahr. Amseln und Igel zum Beispiel ernähren sich und ihren Nachwuchs in dieser Jahreszeit fast ausschließlich von den proteinreichen Tieren.

Wie geht es den Regenwürmern in Zeiten des weltweiten Artensterbens?

Obwohl die Tiere für das Funktionieren vieler Ökosysteme wichtig sind, gibt es darüber nur wenige wissenschaftlich gesicherte Daten. "Der Informationsstand ist gruselig", sagt Eisenhauer. Anders als bei den Insekten, deren zunehmende Dezimierung wissenschaftlich bewiesen ist, fehlen zu Regenwürmern entsprechende Arbeiten. "Es gibt allerdings Studien, die zeigen, dass es umso weniger Regenwürmer im Boden gibt, je mehr Pestizide und Dünger eingesetzt werden", sagt Eisenhauer.

Eine Vermutung ist, dass Agrarchemikalien direkt auf die empfindliche Haut der Tiere wirken. Und viele Dünger haben zur Folge, dass das Milieu des Bodens saurer wird. Sinkt der pH-Wert unter 3,5, sterben die Tiere, weil die Säure den Schleimmantel zersetzt, mit dem sie sich umgeben. Auf der nationalen Roten Liste gefährdeter Arten für Deutschland, die vom Bundesamt für Naturschutz herausgegeben wird, stehen 16 der 46 hierzulande vorkommenden Arten. Als sehr selten gilt beispielsweise der Badische Riesenregenwurm, der 60 Zentimeter lang werden kann und ausschließlich im südlichen Hochschwarzwald vorkommt.

Schadet der Klimawandel den Regenwürmern?

Regenwürmer vertragen keine Trockenheit. Je öfter ein Boden austrocknet, umso stärker geht die Zahl der Regenwürmer darin zurück. "Die Tiere atmen über ihre Haut. Wenn diese austrocknet, funktioniert das nicht mehr", sagt Eisenhauer. Er und seine Kollegen haben in der aktuellen Studie untersucht, welche Faktoren für Biomasse und Artenvielfalt von Regenwürmern wichtig sind. Den größten Einfluss haben demzufolge Niederschlag und Temperatur - beides Faktoren, die sich durch den Klimawandel verändern.

Kann man Regenwürmer teilen?

"Das verbreitete Gerücht, dass aus einem Regenwurm, den man in der Mitte durchschneidet, zwei Würmer entstehen, stimmt nicht", sagt Heiermann. Tatsächlich haben die Tiere aber ein großes Regenerationsvermögen. Das Vorderende kann eine solche Teilung tatsächlich überleben und ein - dünneres - Hinterende nachwachsen lassen. Das funktioniert allerdings nur, wenn die ersten 40 Segmente, in denen lebenswichtige Organe liegen, erhalten geblieben sind. In der Natur finde man solche ,reparierten' Würmer allerdings trotzdem selten, sagt Heiermann. Denn verletzte Würmer fangen sich sehr schnell eine tödliche Infektion ein.

Warum kommen Regenwürmer bei Regen an die Oberfläche?

Das ist noch nicht genau bekannt. Eine Theorie ist, dass die Tiere flüchten, um in ihren überfluteten Gängen nicht zu ersticken. Dagegen sprechen Untersuchungen, die zeigen, dass die Würmer Überschwemmungen mehrere Monate lang überleben. Sogar in anaerobem Wasser, das keinerlei Sauerstoff enthält, halten sie mindestens 35 Stunden durch. Der Trick: Die Würmer schalten auf eine Art Notstoffwechsel um, der keinen Sauerstoff benötigt.

Eine andere Theorie besagt, dass zumindest einige Arten das Geräusch der auf den Boden trommelnden Regentropfen mit den Grabgeräuschen von Maulwürfen verwechseln und an die Oberfläche kriechen, um ihrem ärgsten Feind zu entgehen. Wenn sie nicht sehr hungrig sind, beißen Maulwürfe den Würmern ins Vorderende und machen sie so bewegungsunfähig. Danach schleppen sie die Beute als lebenden Vorrat in ihren Bau.

Gibt es schädliche Regenwürmer?

Der bei uns ökologisch wichtige und nützliche Tauwurm Lumbricus terrestris gilt im Norden der USA und auch in Teilen Kanadas als Schädling. "In diesen Ökosystemen gab es ursprünglich keine Regenwürmer", sagt Eisenhauer. Als Lumbricus terrestris und andere europäische Arten dort eingeschleppt wurden, fanden sie paradiesische Bedingungen mit einer dicken Schicht verrottender Pflanzen auf dem Boden vor. "Die Würmer treten dort in Invasionswellen auf, in denen sie innerhalb weniger Jahre den ganzen Oberboden wegfressen", sagt Eisenhauer.

Das hat dramatische Auswirkungen auf das Ökosystem: Studien zeigen, dass in betroffenen Gebieten Bäume schlechter wachsen und dass manche Pflanzen - zum Beispiel Farne - ganz verschwinden. Stattdessen machen sich Gräser breit. Auch auf die dort heimische Fauna hat die Regenwurminvasion negative Auswirkungen. Beispielsweise finden bodenbrütende Vögel wie der Pieperwaldsänger, englisch "Ovenbird", nicht mehr genug Material für den Bau ihrer Nester. Und wenn die Tiere es trotzdem irgendwie schaffen, Material zusammenzusuchen, ziehen Regenwürmer das mühsam gebaute Nest beim Graben regelrecht auseinander und zerstören es damit.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4915250
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 23.05.2020/hmw
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.