Natürlich gab es einen Aufschrei damals, wie immer, wenn eine ganze Branche kritisiert wird. Eine Studie der Fernuniversität Hagen hatte 2014 erhebliche Qualitätsmängel bei familienpsychologischen Gutachten aufgezeigt. Die Arbeit passte ins Bild, immer wieder waren Jugendämter und Gerichte in die Kritik geraten, weil sie entweder zu früh ein angeblich gefährdetes Kind aus einer Familie herausgerissen haben - oder weil die staatliche Intervention in einen verhängnisvollen Kreislauf familiärer Gewalt zu spät kam.
Und da die Gutachten der Schlüssel für solche Entscheidungen sind, standen die Sachverständigen kollektiv am Pranger. Dass dann auch noch das Bundesverfassungsgericht eine Sachverständige rügte, die einem Mann aus Ghana pauschal "afrikanische Erziehungsmethoden" vorhielt und damit Gewalt und Unterwerfung meinte, vervollständigte das Klischee vom unprofessionellen Gutachter.
Wie in der Wissenschaft sollen die Gutachten anonym von Experten geprüft werden
Zunächst reagierten Teile der Psychologenzunft verschnupft und stellten die Aussagekraft der Studie in Abrede. Also Immunisierung gegen Kritik und einfach weiter so? Im Gegenteil, die Wahrheit ist: Man würde sich wünschen, dass alle Berufsgruppen so konstruktiv mit Kritik umgingen wie die Psychologen. Denn die Debatte hat eine ganze Reihe von Aktivitäten zur Verbesserung der Gutachtenqualität in Gang gesetzt.
2015 formulierten Vertreter psychologischer, medizinischer und juristischer Fachverbände einen Katalog von Mindestanforderungen für solche Gutachten, 2016 folgten punktuelle gesetzliche Änderungen etwa zur erforderlichen Berufsqualifikation von Gutachtern. Überdies ist die Weiterbildung zum zertifizierten Rechtspsychologen reformiert und eine Fortbildungsmöglichkeit via Internet neu eingerichtet worden.
Antreiber vieler Verbesserungen ist das "Kompetenzzentrum für Gutachten", finanziell getragen von der Deutschen Chirurgie-Stiftung und maßgeblich aufgebaut von Anja Kannegießer, einer Juristin und Psychologin, die im Bundesverband deutscher Psychologinnen und Psychologen organisiert ist. Nun soll ein weiterer Schritt folgen. Anstatt nur am "Input" anzusetzen - Ausbildung, Mindestanforderungen - , soll künftig auch der "Output" einer Revision unterzogen werden, und zwar durch ein anonymisiertes Peer-Review-Verfahren: Kollegen prüfen gegenseitig die Gutachten, ohne dabei zu wissen, wessen Werk sie in Händen halten.
Entwickelt hat den Vorschlag Rainer Banse, Professor für Sozial- und Rechtspsychologie in Bonn. Sein Ziel ist ein systematisches Fehlermanagement, wie es in der zivilen Luftfahrt existiert. In den 1950er-Jahren sei das Flugzeug risikoreich gewesen, heute sei es das sicherste Verkehrsmittel überhaupt. Allerdings will Banse nicht etwa eine Superbehörde für Familiengutachter etablieren, sondern vielmehr eine institutionalisierte Fehlerkultur unter Kollegen, die sich gleichsam wechselseitig über die Schulter schauen.
Um zu begreifen, warum Banse dabei auf Anonymität setzt, muss man sich anschauen, welche Kontrollmethoden er verworfen hat. Erstens die Intervision, also den regelmäßigen Austausch innerhalb einer Gruppe von Fachkollegen aus demselben Haus oder auch praxisübergreifend. Familienpsychologische Sachverständige haben nämlich keine mechanistische Methodik, sie müssen vielmehr ihre Fragen der Situation anpassen und sich vorsichtig durch die Exploration tasten. Da spielen Erfahrung und Abwägung eine wichtige Rolle, denn die Spannungen in der Familie oder Bindung eines Kindes zu Vater und Mutter lassen sich nicht einfach messen wie Blutdruck oder Fieber.