Raumfahrt:Die große Reise der kleinen Lisa

Ob Gravitationswellen messbar sind, soll nun eine neue Raumsonde testen - 1,5 Millionen Kilometer weit von der Erde entfernt. Es wird die ruhigste Mission aller Zeiten.

Von Alexander Stirn

Raumfahrt ist nichts für ungeduldige Menschen. Von der Idee bis zum Start einer Mission vergehen meist etliche Jahre. Noch weniger für ungeduldige Gemüter geeignet ist die Suche nach Gravitationswellen. Bereits 1916 vermutete Albert Einstein, dass es diese subtilen Störungen im Raum-Zeit-Gefüge geben müsse. Aufgespürt wurden sie bis heute nicht. Und wenn Raumfahrtprojekte nach Gravitationswellen suchen, dann wird die Sache selbst für geduldige Menschen zur Belastungsprobe. Doch das Warten könnte belohnt werden. Jetzt, wo Lisa ins All fliegt.

Lisa, genauer gesagt Lisa Pathfinder , ist eine europäische Raumsonde mit äußerst wechselhafter Geschichte. Sie ist ein Kind des vergangenen Jahrhunderts, sie war transatlantischer Hoffnungsträger, sie war praktisch tot, sie galt als technisch nicht machbar - und nun steht sie an der Startrampe. Am kommenden Mittwoch soll Lisa endlich ins All fliegen. Die mehr als 430 Millionen Euro teure Mission ist dabei nur der Beginn eines langwierigen Projekts, das Gravitationswellen aufspüren soll. Doch es geht den Wissenschaftlern um viel mehr: Um den letzten Beweis, dass Einsteins Weltbild eines flexiblen Raum-Zeit-Gefüges richtig ist.

Bei der Europäischen Raumfahrtagentur Esa, die seit mehr als 15 Jahren hinter Lisa steht, ist man froh, es zumindest so weit gebracht zu haben. "Lisa kann uns helfen, ein komplett neues Fenster zum Verständnis des Universums aufzustoßen", sagt Esa-Wissenschaftschef Álvaro Giménez Cañete. Anfang September hat der Spanier die Raumsonde mit den Abmessungen eines Kleinstwagens von Ottobrunn bei München aus auf ihre große Reise geschickt. Dort, im Süden der bayerischen Landeshauptstadt, im Testzentrum der Firma IABG, war Lisa fit für den Weltraum gemacht worden. Dann ging es, mit einem Zwischenstopp in Großbritannien, über den Atlantik nach Französisch-Guayana zum europäischen Weltraumbahnhof Kourou. Nun folgt der Sprung ins All, wo Lisa 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt beweisen soll, dass es technisch zumindest möglich ist, die subtilen Schwerkraft-Wellen nachzuweisen.

Noch nie wurde das von Einstein propagierte Zittern der Raumzeit direkt gemessen. Experimente mit irdischen Detektoren, in denen die Bewegung von Testmassen an den Enden kilometerlanger Vakuumröhren untersucht wurde, konnten bislang keine Ergebnisse erzielen. Im Weltraum hat beispielsweise das australische Parkes-Radioteleskop elf Jahre lang nach Gravitationswellen gesucht, die bei der Kollision extrem massiver Schwarzer Löcher entstehen sollten. Die Astronomen sind aber, wie sie in diesem Herbst in der Fachzeitschrift Science einräumen mussten, nicht fündig geworden (Bd. 349, S. 1522, 2015). Anfang 2014 gab es zudem einen falschen Alarm. Die Physiker des am Südpol installierten Mikrowellen-Observatoriums Bicep2 verkündeten, Spuren von Gravitationswellen aus der Frühzeit des Universums entdeckt zu haben. Wenig später mussten die Forscher allerdings einräumen, lediglich Staubwolken aus der Milchstraße beobachtet zu haben. Für Esa-Projektwissenschaftler Paul McNamara ist deshalb klar: "Wollen wir Gravitationswellen nachweisen, müssen wir ins All gehen."

Deshalb macht sich die kleine Lisa derzeit bereit für ihre große Mission. Zwei Testmassen haben Ingenieure an Bord der Raumsonde untergebracht. Jeder der beiden Klötze besteht aus einer hochreinen Gold-Platin-Legierung, ist exakt 1,96 Kilogramm schwer und hat eine Kantenlänge von 46 Millimetern. In einigen Jahren, wenn ein vollständiges Gravitationswellen-Observatorium im All installiert wird, werden solche Quader auf zwei oder drei Raumschiffe verteilt, die mindestens eine Million Kilometer voneinander entfernt durchs All schweben. Trifft eine Gravitationswelle auf einen der Klötze, ändert sich dessen Entfernung zu den anderen Massen. Die Abweichung müsste sich messen lassen. Soweit die Theorie.

Raumfahrt: Wenn große Massen beschleunigt werden oder ein Stern explodiert, zittert der Weltraum. Gravitationswellen breiten sich aus. Mit drei über Laserstrahlen gekoppelten Sonden müsste man diese Erschütterungen nachweisen können.

Wenn große Massen beschleunigt werden oder ein Stern explodiert, zittert der Weltraum. Gravitationswellen breiten sich aus. Mit drei über Laserstrahlen gekoppelten Sonden müsste man diese Erschütterungen nachweisen können.

Sogar vereinzelt im All schwebende Moleküle stören die sensiblen Messungen

An Bord von Lisa haben die beiden Quader lediglich einen Abstand von 38 Zentimetern. Das reicht bei weitem nicht, um Gravitationswellen nachzuweisen. Doch das ist auch nicht Lisas Aufgabe. Als Technologiedemonstrator soll die Sonde beweisen, was technisch machbar ist, welche im Moment noch ungeahnten Schwierigkeiten auftreten können, wie die Suche dereinst überhaupt vonstattengehen kann.

Das ist schwerer als es klingt. Zwar wird im All die irdische Schwerkraft ausgeschaltet, die sämtliche Gravitationsexperimente auf der Erde beeinträchtigt, allerdings müssen andere Störungen kompensiert werden: Der Strahlungsdruck der Sonne zerrt an Lisa, Mikrometeoriten und geladene Teilchen des Sonnenwinds kollidieren mit der Sonde, genauso wie vereinzelte Gasmoleküle, die im vermeintlichen Vakuum des Weltalls noch anzutreffen sind. Um Gravitationswellen in der Praxis messen zu können, dürfen die Störungen allerdings nicht stärker ausfallen als ein Femto-G, sagt Stefano Vitale, Leitender Wissenschaftler der Lisa-Pathfinder-Mission. Diese Beschleunigung entspricht einem Billiardstel der irdischen Schwerkraft - oder dem Effekt einer Bakterie, die sich auf der Oberfläche der Goldwürfel niederlässt.

Ein äußerst sensibles System zur Lageregelung muss daher alle äußeren Kräfte ausgleichen. Hierzu stößt die Sonde Ionen, geladene Atomkerne, aus. Diese erzeugen einen Schub von einigen Mikronewton. Tausend solcher Mini-Düsen wären nötig, um auf der Erde ein Blatt Papier anzuheben, erklärt Vitale. Selbst eine Schneeflocke entwickelt, wenn sie im Vakuum auf den Boden fällt, 30-mal so viel Schub. Zehn Korrekturmanöver pro Sekunde sind nötig, um die äußeren Einflüsse abzufedern.

Aber auch das reicht nicht, um Lisa von den Ablenkungen des Weltraums abzuschirmen: Kosmische Strahlen laden die Apparatur elektrisch auf. Deshalb muss die Testeinrichtung von Zeit zu Zeit mit ultraviolettem Licht entladen werden. Kleinste magnetische Fluktuationen in der Gold-Platin-Legierung können deren Lage beeinflussen. Deshalb sind die Körper vor dem Start in einer abgeschirmten Magnetkammer bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Berlin vermessen worden. Und selbst die Eigenmasse der Sonde, gerade einmal 430 Kilogramm, übt eine Anziehungskraft auf die Quader aus. Deshalb haben Forscher ein Gravitationsmodell des Raumschiffs erstellt, das in die Berechnungen der Ausweichmanöver einfließt. Für Esa-Projektleiter Cesar Garcia ist deshalb klar: "Wir planen die ruhigste Mission, die jemals geflogen ist."

Ob im All wirklich alles so ruhig abläuft, soll ein Laser-Interferometer überprüfen. Ein Lichtstrahl wird dabei über 22 Spiegel zu beiden Testmassen gelenkt. Bewegt sich einer der Quader, ändert sich die Frequenz des Laserlichts. "Das ist dasselbe Prinzip, das die Polizei zur Tempomessung mit Laserkanonen benutzt, nur sehr viel genauer", sagt Vitale. Abstandsänderungen von zehn Billionstel Meter soll das System erkennen können - weniger als der Durchmesser eines Wasserstoffmoleküls.

Raumfahrt: Im Lisa Pathfinder stecken zwei winzige Zylinder. Damit Physiker Gravitationswellen nachweisen können, muss ihr Abstand auf den Billionstel Meter genau sein.

Im Lisa Pathfinder stecken zwei winzige Zylinder. Damit Physiker Gravitationswellen nachweisen können, muss ihr Abstand auf den Billionstel Meter genau sein.

Mikronewton, Pikometer, Femto-G. Ingenieure bekommen bei solchen Herausforderungen feuchte Hände. "Lisa Pathfinder war für uns die erste Mission in fundamentaler Physik", sagt Michael Menking, Leiter der Wissenschaftssparte des Raumfahrtkonzerns Airbus Defence and Space, der die Sonde federführend gebaut hat. Mehr als 400 Forscher und Ingenieure seien in den vergangenen zehn Jahren am Projekt beteiligt gewesen. Sie haben Lisa entworfen, umgesetzt und getestet - so gut es eben ging. "Auf der Erde werden wir die Schwerkraft allerdings nicht los", sagt Menking. "Der echte Test kommt erst im All."

Sollte die kleine Lisa wie geplant am 2. Dezember mit einer Vega-Rakete zu ihrer großen Reise aufbrechen, werden die ersten Ergebnisse nicht lange auf sich warten lassen. "Nach drei Monaten Betrieb wissen wir Bescheid, dann sind alle wesentlichen Fragen beantwortet", sagt Karsten Danzmann, Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Hannover und einer der wissenschaftlichen Leiter der Mission. Wie im irdischen Physiklabor will Danzmann gezielt die Bedingungen an Bord des kleinen Raumschiffs verändern - darunter Temperatur, Steifigkeit, elektrische und magnetische Felder. Alle Auswirkungen werden vermessen und mit dem physikalischen Modell der Sonde verglichen. Stimmt alles überein, ist die Technik bereit für größere Aufgaben.

Es geht um mehr, als den Beweis, dass Einstein mal wieder richtiglag: "Mit der Schwerkraft können wir zurück bis zum Urknall schauen", sagt Projektwissenschaftler McNamara.

Das Fenster wird sich allerdings - wenn überhaupt - nur langsam öffnen. Noch langsamer als bei Lisa, der Testsonde, und die hat sich schon mehr als 15 Jahre Zeit gelassen: Im Jahr 2000 entstanden die ersten Konzepte für ein Gravitationsobservatorium. 2004 begann die Industrie mit der Umsetzung, 2008 sollte Lisa Pathfinder als Wegbereiterin starten. 2011 war die Sonde immer noch nicht ab. Dafür zog sich die US-Raumfahrtbehörde Nasa überraschend von dem Projekt zurück, das sie gemeinsam mit den Europäern stemmen wollte. Die Pläne verschwanden in der Schublade. Immerhin: Die kleine Lisa, der Technologiedemonstrator, konnte gerettet werden.

Hoffnung auf eine große Lisa, auf ein ausgewachsenes Gravitationswellenobservatorium, hat die Esa dennoch nicht aufgegeben. Im internen Wettstreit um künftige Mitfluggelegenheiten ist die Schwerkraftforschung zuletzt allerdings anderen Wissenschaftsmissionen unterlegen - allen voran einem Flug zu den Jupitermonden und einem neuen Röntgenteleskop. Das große Gravitationsobservatorium, inzwischen eLisa genannt, kann laut aktueller Planung frühestens 2034 starten.

Die Nasa wäre bei dem Projekt jederzeit wieder willkommen - aber nur noch als Juniorpartner

Álvaro Giménez Cañete will dennoch eine schnelle Entscheidung: "Sobald wir die technischen Hürden bei Lisa Pathfinder genommen haben, müssen wir die finanziellen Hürden für eLisa meistern", sagt der Spanier. Etwa eine Milliarde Euro stehen dem Esa-Wissenschaftschef für das Observatorium zur Verfügung. Das reicht allerdings nur für eine Basis-Version mit voraussichtlich zwei Testmassen auf zwei Satelliten, keine Triangel, wie ursprünglich geplant. Um mehr zu erreichen, müssten die Esa-Mitgliedsländer zusätzliches Geld aufbringen - oder die Nasa steigt wieder ein: Trotz schlechter Erfahrungen in den vergangenen 15 Jahren überlegt Giménez Cañete, die Amerikaner wieder mitmachen zu lassen, dieses Mal allerdings nur als Juniorpartner. "Wir werden die Mission durchziehen, aber sie muss im finanziellen Rahmen bleiben", sagt Giménez Cañete. "Ein unterfinanziertes Programm bezahlt man nur teuer mit Verzögerungen."

2034 ist ohnehin schon spät genug. Sollte die große Lisa dann endlich starten, wird ihre Geburtsstunde mehr als 30 Jahre zurückliegen, die von Lisa Pathfinder getestete Technik wird fast 20 Jahre alt sein. Erlaubt Einsteins letztes Rätsel so viel Geduld? Kann eLisa dann überhaupt noch zeitgemäß sein? Giménez Cañete zuckt mit den Schultern. Antworten gibt es derzeit keine, nur eine seit Jahrzehnten von Raumfahrtmanagern und Gravitationswellenforschern gelebte und perfektionierte Strategie: Geduld.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: