Raumfahrt:Der Mann, der ins All wollte

Vor 25 Jahren nahm der Max-Planck-Forscher Ulf Merbold als erster Westdeutscher an einer Raummission teil. Der erste Deutsche im All war er nicht.

Alexander Stirn

Viel hat Ulf Merbold der DDR nicht zu verdanken. Eigentlich ist da nur eine Sache, und die ist ihm nicht einmal wichtig: Nur weil Deutschland Anfang der 1980er-Jahre zweigeteilt war, nur weil die DDR hinter dem eisernen Vorhang lag und damit außerhalb des bundesdeutschen Blickfelds, galt Merbold viele Jahre als erster Deutscher im Weltall.

Dabei war dem Physiker, als er am Morgen des 28. November 1983 in die US-Raumfähre Columbia kletterte und sich in seinen Sitz schnallen ließ, klar, dass er nur die Nummer zwei sein würde. Und es war ihm egal. Ulf Merbold wollte fliegen, er wollte forschen.

Die Verantwortlichen in der Bundesrepublik sahen das etwas anders. Immerhin hatten sie Geld in ihren Mann im All investiert, viel Geld. Etwa 1,3 Milliarden Mark waren geflossen, damit endlich ein "richtiger Deutscher", wie die Süddeutsche Zeitung seinerzeit formulierte, ins All fliegen konnte. Kein Training war ausgelassen worden, um die neue deutsche Galionsfigur ins rechte Licht zu rücken. Und der Start sollte die Schmach nun ein für alle mal vergessen machen.

Die lag mittlerweile fünf Jahre zurück. Damals, im Juli 1978, hatte Europa gerade seine ersten drei Astronauten vorgestellt. Junge, motivierte Wissenschaftler. Ein Holländer, ein Schweizer und als aussichtsreichster Kandidat Ulf Merbold, der Max-Planck-Forscher aus Stuttgart. Im Westen bezweifelte kaum jemand, dass der Mann mit dem bubenhaften Gesicht und den glänzend schwarzen Haaren als erster Deutscher ins All fliegen würde.

Bis am 26. August 1978 ein Offizier der Nationalen Volksarmee genau das machte: 125-mal kreiste Sigmund Jähn um die Erde, startete wissenschaftliche Experimente und inszenierte eine Sendung mit dem DDR-Sandmännchen.

Die Bundesrepublik hatte, wie einst die USA, den Wettlauf gegen den Klassenfeind verloren. Entsprechend eindrucksvoll musste der Gegenschlag ausfallen. Während die DDR mit Jähn nur einen "Mitesser in der Russen-Rakete" durchs All geschickt hatte, wie der damalige Welt-Chefredakteur und spätere Regierungssprecher Peter Boenisch ätzte, sollte der erste Westdeutsche ein vollwertiges Mitglied der Besatzung sein. Jemand, der mehr ist, als nur ein Eintrag im Geschichtsbuch der Raumfahrt. Ein echter Wissenschaftsastronaut eben.

Ein Geschenk an die Amerikaner

Da passte es gut, dass unter deutscher Führung gerade ein europäisches Forschungslabor entwickelt wurde: Spacelab, ein zwei Milliarden Mark teures Modul für die Ladebucht des Shuttles, war als Geschenk an die Amerikaner gedacht. Im Gegenzug hoffte Europa, beim Jungfernflug die Hälfte der Experimente stellen zu dürfen - und außerdem einen Astronauten.

Mehr als 2000 Männer und Frauen meldeten sich, als die europäischen Raumfahrtagenturen Anfang 1977 nach einem "Wissenschaftler im Weltraumlabor" suchten. Allein in Deutschland gingen 700 Bewerbungen ein, darunter auch die eines 35-jährigen Wissenschaftlers vom Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart. Wobei dessen Mappe beinahe verloren ging. Erst als Merbold keine Rückmeldung bekam, hakte er nach - und rutschte noch ins Auswahlverfahren.

Der Mann, der ins All wollte

Es folgten psychologische Untersuchungen bei den Pilotenausbildern der Lufthansa, flugmedizinische Checks in Fürstenfeldbruck und Belastungstests in Bad Godesberg. Egal ob in der Zentrifuge, auf dem Drehstuhl oder im Schneewittchensarg, der das Blut in die Beine zieht - Merbold war fast immer besser als die Kollegen. Psychologen bescheinigten ihm einen starken Leistungswillen, eine unterdurchschnittliche Aggressivität und keinerlei störende Spleens.

Ohne zu zögern schickte ihn die Bundesrepublik ins europäische Rennen. Weitere Psychotests, Untersuchungen und Extrembelastungen folgten. Genauso wie wenig später bei den Amerikanern. Letztlich stritten sich drei Astronauten um einen Platz: der niederländische Kernphysiker Wubbo Ockels, der Schweizer Astronom Claude Nicollier, und der Schwabe Merbold.

Nicht unbedingt als Held geeignet

Nicollier schied freiwillig aus, um sich von der Nasa zum deutlich angeseheneren Missionsspezialisten weiterbilden zu lassen. Übrig blieb ein Duo, aus dem die an der Spacelab-Mission beteiligten Forscher schließlich ihren bevorzugten Wissenschaftsastronauten bestimmen durften. Die Wahl fiel mit deutlicher Mehrheit auf den Deutschen. Ein Holländer in einem zu zwei Drittel von Deutschland bezahlten Labor hätte den Geldgebern auch nicht unbedingt gefallen.

Merbold hat solche Spekulationen stets zurückgewiesen: "Die Wissenschaftler im Auswahlgremium kamen aus den verschiedensten Nationen. Jeder wollte sein Experiment von dem Mann im Weltraum betreut wissen, den er selbst für den besten hielt." Ob der Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur Esa, der die Empfehlung der Forscher bestätigen musste, auch ein holländisches Votum akzeptiert hätte, kann heute niemand mehr sagen.

Westdeutschland jedenfalls hatte nun seinen Raumfahrer - wenn auch einen, der sich nicht unbedingt als Held eignete. Merbold war Forscher durch und durch. "Ein wissenschaftlicher Musterbeamter aus dem Musterländle", spottete der Playboy. Der Spiegel sah in ihm eher "einen kleinen Büroangestellten, der den Nachschub für die Kantine oder die Ausgabe der Hausausweise zu regeln hat".

Vor allem war Merbold aber niemand, der sich von der Politik einspannen ließ. Dem stand schon seine Biographie entgegen: 1941 im kleinen Ort Greiz im thüringischen Vogtland geboren, musste Merbold miterleben, wie sein Vater nach der Rückkehr aus dem Krieg von der Roten Armee ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt wurde und dort starb. Seine Mutter entließen die neuen Machthaber aus dem Schuldienst.

Der Mann, der ins All wollte

Während Sigmund Jähn, der 32 Kilometer entfernt im sächsischen Morgenröthe-Rautenkranz aufwuchs, schnell Karriere bei den Jungen Pionieren, der FDJ und später in der Nationalen Volksarmee machte, hielt Merbold Distanz zum Staat. "Als ich Abitur machte, war ich der einzige Schüler unserer Schule, der nicht der FDJ angehörte", erinnert sich der heute 67-Jährige nicht ohne Stolz.

An das geplante Physik-Studium in Jena war ohne "gesellschaftliche Arbeit" allerdings nicht zu denken. Merbold fuhr nach Berlin, radelte wenige Monate vor dem Mauerbau in den Westteil der Stadt und landete schließlich an der Universität Stuttgart. Von dort ging es nur noch aufwärts.

Als Sigmund Jähn im September 1978 nach seinem All-Ausflug zurück nach Ostberlin kam, wurde er in einen offenen Wagen gesetzt und durfte drei Stunden lang an der Seite von Erich Honecker durch die Hauptstadt fahren. Überall hingen Plakate, überall jubelten Menschen. Er wurde Generalmajor, musste Hände schütteln und programmatische Reden halten, die ihm nicht gefielen.

"Mann des Jahres"

Auch Merbold wurde, als er wieder in Stuttgart landete, umgehend in eine Limousine der Landesregierung gesteckt. Allerdings gab es keine Parade, sondern es ging direkt zu Ministerpräsident Lothar Späth. Der heftete dem damals mit Abstand prominentesten Sohn des Ländles die baden-württembergische Verdienstmedaille ans Revers. Merbold reagierte auf seine Art und flüchtete erst einmal auf eine Skihütte ins Unterengadin - wo es weder Telefon noch Fernseher gab.

Dem Bedürfnis der Mächtigen, sich mit ihm zu schmücken, konnte er auf Dauer aber nicht entfliehen. Es folgten Termine bei Bundespräsident, Bundeskanzler, Forschungsminister. Es gab eine Tournee durch alle elf Esa-Mitgliedsstaaten - mit noch mehr Königen, Präsidenten und Ministern. Schließlich wurde Merbold auch noch zum "Mann des Jahres" gekürt. "Ich kann schon sagen, dass mir das gefallen hat - obwohl ich es nicht brauche, als Held gefeiert zu werden", sagt er später in der ihm eigenen Mischung aus Zurückhaltung und Selbstbewusstsein.

Auch Sigmund Jähn kam Merbold schließlich näher - von Vogtländer zu Vogtländer: Der Westdeutsche verschaffte dem Ostdeutschen, der als Generalmajor in der Bundeswehr nicht mehr erwünscht war, Jobs bei den Raumfahrtagenturen. Jähn revanchierte sich, indem er Merbold während dessen Vorbereitung auf seinen Flug zur Raumstation Mir im russischen "Sternenstädtchen" unterstützte.

Den Mauerfall hatten die beiden zuvor während einer Astronautenkonferenz in Saudi-Arabien erlebt - angeblich saßen sie nebeneinander im Hotelzimmer und folgten gebannt dem Geschehen auf dem Schirm. Die Frage nach der Nummer eins und zwei hatte sich damit ein für allemal erledigt.

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