Quantenphysik:Der optimale Computer

Quantenphysik: Ein Name wie ein Versprechen: „Advantage“ heißt der Rechner, der so groß ist wie manches Badezimmer.

Ein Name wie ein Versprechen: „Advantage“ heißt der Rechner, der so groß ist wie manches Badezimmer.

(Foto: Sascha Kreklau / Forschungszentrum Jülich)

In Jülich geht der größte Quantencomputer Europas an den Start. Er soll die bestmöglichen Lösungen für komplexe mathematische Probleme finden - am Flughafen, im Pflanzenbeet oder im Aktienportfolio. Doch manchmal patzt die futuristische Technik.

Von Christian Meier

Das neue Gebäude, das den größten Quantencomputer Europas beherbergt, sieht nicht gerade imposant aus. Hätte es Fenster in seiner holzverkleideten Außenwand, könnte es auch als Kindertagesstätte des Forschungszentrums Jülich durchgehen, wo es zwischen grauen Institutsgebäuden steht. Kristel Michielsen schließt die einzige Außentür auf, die in ein Foyer führt. An dessen Rückwand sind zwei Glastüren. Durch die linke schimmert es orange, wie aus einer Bar. "Da drin arbeitet der Rechner von D-Wave", sagt Michielsen, Leiterin der Gruppe Quanteninformationsverarbeitung. Sie öffnet die Tür, drinnen empfängt ein Surren die Besucher und ein schwarzer Kasten, groß wie ein Badezimmer. Entlang einer Kante leuchten orangefarbene Buchstaben: "Advantage" verkünden sie - "Vorteil".

Der Name des Quantencomputers ist ein Versprechen: Der Rechner der kanadischen Firma D-Wave Aufgaben soll Aufgaben sehr viel schneller und genauer lösen, als es heute selbst Supercomputer könnten. Der erste seiner Art ist er indes nicht: Seit 2020 arbeiten zwei weitere Exemplare von Advantage in der Zentrale von D-Wave nahe Vancouver. Forscher und Unternehmen teilen sich dort Rechenzeit per Cloudzugriff. Das tat bislang auch Michielsens Jülicher Team. "Doch jetzt können wir Advantage in Eigenregie zusammen mit der Industrie ausprobieren", sagt Michielsen. "Wir wollen das Potenzial dieser Technik ausloten."

Dass sich die Wirtschaft für Advantage interessiert, liegt an der Art von Aufgaben, für die ihn sein Hersteller entworfen hat: Optimierungsprobleme. Das klingt wissenschaftlich, ist aber Alltag. Unternehmen verschwenden oft Zeit, Personal und Geld, weil sie aus einer Überfülle an möglichen Lösungen eine wählen, die weit von der bestmöglichen entfernt ist. Schon bei vermeintlich einfachen Aufgaben versteckt sich das Optimum in einem Dickicht aus Komplexität, wie Michielsens Mitarbeiter Carlos Gonzalez Calaza veranschaulicht.

Schon ein Feld mit wenigen Pflanzensorten zu optimieren, kann klassische Computer überfordern

"Ich pflanze Gemüse auf meiner Terrasse", beginnt Calaza seine Ausführungen in seinem Büro nahe dem Neubau mit dem Quantencomputer. Er wollte mehrere Pflanzenarten auf dem engen Raum anbauen. Es gebe Pflanzen, die gerne nebeneinander wachsen, und solche, die einander nicht mögen, erläutert er. Tomaten und Gurken etwa sollten nicht in zwei benachbarte Töpfe, Tomaten und Salat hingegen schon.

Als Calaza mit Block und Bleistift versuchte, die Anordnung seiner Pflanzen zu optimieren, merkte er, wie komplex diese Aufgabe war. Schon für drei Sorten gibt es sechs Möglichkeiten, sie aneinanderzureihen. Die Anzahl der Kombinationen vervielfacht sich mit jeder neuen Sorte. Verteilt man die Töpfe auf einer Fläche, muss man noch mehr Nachbarschaften berücksichtigen. "Tauscht man nur ein Paar, wirkt sich das auf das ganze Feld aus", erklärt Calaza. Ein dichtes Netz aus Möglichkeiten entsteht, in dem es etliche Lösungen gibt, die so lala sind. Aber wo im Dickicht versteckt sich die allerbeste Lösung, eine, in der jede Pflanze die ideale Nachbarschaft hat?

Die Aufgabe gehört zu einer Klasse von Problemen, deren Komplexität selbst die leistungsstärksten klassischen Computer überfordert. Also dachte sich Calaza, dass diese Aufgabe sich gut eigne, um den Rechner von D-Wave zu testen. Das ist mehr als Spielerei. Denn Aufgaben, deren Komplexität schnell explodiert, gibt es im wirtschaftlichen Alltag zuhauf. Flughäfen müssen möglichst reibungslos täglich hunderte Maschinen an wenigen Gates abfertigen. Das Optimum ist wegen der vielen Möglichkeiten und etlicher Randbedingungen schwer zu finden. So sind manche Flugzeuge zu groß für ein bestimmtes Gate oder blockieren benachbarte Gates.

Auch die Logistik von Supermarktketten ist hochkomplex, der Fertigungsablauf in Fabriken, das Ausbalancieren von Risiken und Renditen bei Aktienportfolios. Sogar maschinelles Lernen, wie es etwa zur Steuerung von autonomen Fahrzeugen eingesetzt wird, ist im Kern eine Optimierungsaufgabe.

Einige hundert Qubits können mehr Werte aufnehmen, als es Atome im Universum gibt

Quantencomputer könnten diese harten Nüsse knacken. Ihre größte Stärke: Sie können nahezu beliebig viele Möglichkeiten parallel verarbeiten. Die Basis dafür ist das "Quantenbit", kurz Qubit. Es ist eine Erweiterung des Bit, der kleinsten Informationseinheit eines klassischen Computers, das zwischen den Werten 0 und 1 schalten kann. Die Quantenphysik setzt sich über dieses Entweder-oder hinweg. Teilchen wie Atome oder Elektronen können mehrere Zustände simultan annehmen, zum Beispiel an zwei Orten gleichzeitig sein.

Definiert man den einen Zustand als 0 und den anderen als 1, erhält man eine Informationseinheit, die beide Werte simultan aufnehmen kann. Jedes weitere Qubit verdoppelt die Kapazität. Zwei Qubits enthalten vier Werte parallel, drei Qubits acht Werte und so weiter. Einige hundert Qubits können mehr Werte aufnehmen, als es Atome im Universum gibt. Physiker nutzen Laser oder Mikrowellen, um Qubits zu manipulieren und miteinander in Wechselwirkung zu bringen. So führen sie Algorithmen aus, sprich: Die Qubits rechnen, und zwar gleichzeitig mit allen gespeicherten Werten.

Advantage ist eine spezielle Art von Quantencomputer und nicht zu verwechseln mit denen von IBM oder Google, die noch nicht praxistauglich sind. Die Entwickler dieser Tech-Giganten haben einen anderen Anspruch: Die Computer sollen frei programmierbar sein und ein breites Spektrum von Anwendungen beschleunigen. Advantage hat mit mehr als 5000 Qubits deutlich mehr als diese Quantencomputer, bleibt aber auf Optimierungsaufgaben beschränkt.

Diese löst er mit der immer gleichen Methode. Die 5000 Qubits stellen alle möglichen Kombinationen des Problems gleichzeitig dar. Im Gartenbeispiel sind das alle möglichen Anordnungen der Pflanzen in den Töpfen, günstige wie ungünstige. Der Algorithmus berechnet simultan für alle Möglichkeiten einen "Preis", der umso höher ist, je mehr unliebsame Nachbarn eine Pflanze hat. Physikalisch spiegelt sich der Preis als Energie wider. Somit hat das Optimum die kleinste Energie. Weil physikalische Systeme dem Energieminimum zustreben, verschwinden die suboptimalen Lösungen von selbst aus den Qubits. Die optimale Lösung bleibt übrig und kann ausgelesen werden.

"Wir konnten die Investitionsrendite um zehn Prozent steigern und benötigten dafür nur ein Zehntel der Zeit."

Die Qubits bestehen aus dem Metall Niob, das bei wenigen Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt von minus 273 Grad Celsius elektrischen Strom ohne Widerstand leitet. In diesem Zustand gehorcht der Strom der Quantenphysik. Formt man das Metall zu einer Schleife, kreist der Strom simultan links und rechts herum. Die beiden simultanen Stromrichtungen bilden ein Qubit. Die Qubits von Advantage passen auf einen fingernagelgroßen Chip. Einen großen Teil in der badezimmergroßen Box in Jülich nehmen die Kältetechnik, die Isolierung und die Steuerelektronik ein. Hineinsehen darf der Besucher jedoch nicht.

Wichtiger ist ohnedies, was die schwarze Kiste ausspuckt. Anwender der Schwester-Computer in Kanada zeigten sich bei der Einweihung des Jülicher Rechners überzeugt. Einer von ihnen ist Gonzalo Gortazar, Chef der spanischen Caixabank. Sein Haus hat ein Investmentportfolio mit Hilfe des D-Wave-Rechners optimiert. "Wir konnten die Investitionsrendite um zehn Prozent steigern und benötigten dafür nur ein Zehntel der Zeit", sagt Gortazar.

Ein Beispiel aus der Logistik schildert Vern Brownell, Geschäftsführer von D-Wave-Systems. Eine kanadische Supermarktkette habe angefragt, weil in der Corona-Pandemie die Lieferketten für Lebensmittel komplexer geworden seien. "Sie brauchten pro Standort und Woche etwa 25 Stunden, um eine optimale Lösung zu berechnen", sagt Brownell. Mit Hilfe von D-Waves Computer sei es gelungen, das Problem in jeweils zwei Minuten zu lösen.

Der Quantencomputer aus Kanada optimiert also im Eiltempo. Aber offen bleibt: Sticht er klassische Computer wirklich aus? Bislang fanden Forscher keine eindeutige Antwort darauf. Da ist zunächst die Frage, wie zuverlässig Advantage das Optimum findet und nicht nur die zweit- oder drittbeste Lösung. Dazu hat Kristel Michielsens Team dem Rechner Probleme gegeben, deren optimale Lösungen er schon kannte. "Wir sahen dabei sehr unterschiedliche Ergebnisse", berichtet Michielsen. Teils habe der Quantencomputer die optimale Lösung gefunden, teils aber auch nicht die allerbeste. Manchmal auch eher schlechte Lösungen.

Und auch in der Frage, ob Advantage schneller zu Lösungen kommt als die schnellsten bisherigen Optimierungsverfahren, geht es unter Forschern hin und her. Mit Tricks finden klassische Computer im Dickicht der Komplexität ebenfalls sehr gute Lösungen, wenn auch nicht die allerbeste.

Zunächst sah es zwar so aus, als habe D-Wave die Nase vorn. Die Firma publizierte 2017 eine Forschungsarbeit, wonach der D-Wave-Rechner 2500 Mal schneller sei als die besten klassischen Verfahren. Doch die Kritik folgte prompt: Die verwendeten klassischen Methoden ließen sich noch stark vereinfachen, schrieben Forscher um Salvatore Mandrà vom Ames Research Center der Nasa. Womöglich hatten auch D-Waves Kunden die herkömmlichen Methoden nicht ausgereizt. "Bislang fehlt die wissenschaftliche Evidenz für einen Vorteil der D-Wave-Rechner", sagt der Quantencomputer-Experte Scott Aaronson von der University of Texas in Austin.

"Ein ehrlicher Vergleich ist sehr schwierig", meint Kristel Michielsen. Sie betrachtet Advantage als ein Forschungsprojekt. Mit dem Quantencomputer auf dem eigenen Campus will ihr Team die Physik der Qubits besser verstehen. "Vielleicht entdecken wir dabei neue Wechselwirkungen zwischen den Qubits, die einen Vorteil bringen könnten", sagt die Quanteninformatikerin. Parallel dazu soll im Verbund mit Unternehmen das praktische Potenzial von Advantage erforscht werden. "Projekte sind mit der Autoindustrie oder mit Energieversorgungsunternehmen geplant", sagt Michielsen. Der größte Quantencomputer Europas wird also reichlich Gelegenheit haben, sein Können zu zeigen, unter den prüfenden Augen vieler Forscher.

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