Süddeutsche Zeitung

Ptolemäus korrigiert:Eine neue Vermessung der alten Welt

1900 Jahre nach ihrem Entstehen haben deutsche Wissenschaftler die Weltbeschreibung des Ptolemäus entschlüsselt - und Thule enttarnt.

Axel Bojanowski

Christoph Kolumbus war sich seiner Sache sicher. Einen neuen Seeweg nach Asien wollte er bekanntlich entdecken. Mit drei Segelschiffen überquerten er und seine Mannschaften im Jahr 1492 den Atlantik. Dass seine eigentliche Mission zum Scheitern verurteilt war, ahnte er nicht, denn seine Seekarten gaukelten ihm viel zu kurze Entfernungen vor. Deshalb wähnte er sich in Asien, als er schließlich in der Karibik gelandet war.

So wie die Weltkarten von Kolumbus waren sämtliche Atlanten des Mittelalters mehr oder weniger fehlerhaft. Sie gründeten auf Daten aus der Antike, die der Gelehrte Claudius Ptolemäus im zweiten Jahrhundert zusammengetragen hatte: Sie enthielten das seinerzeit bekannte geographische Wissen über die Lage von knapp 7000 Orten in Europa, Afrika und Asien. Das daraus resultierende Kartenmaterial war bis ins Spätmittelalter die Grundlage aller Atlanten.

Nicht nur jenen Reisenden, die ihr Ziel verfehlten, gaben die Ptolemäischen Atlanten Rätsel auf. Die Karten zeigen eine Vielzahl von Orten, deren heutige Lage unbekannt ist. Waren einigen der mittelalterlichen Zentren womöglich Vorläufer heutiger Städte? Und welche Verkehrswege bestanden damals? Verstünde man die Karten zu deuten, könnten sie die Welt des Altertums offenbaren.

Jetzt, knapp 1900 Jahre nach ihrem Entstehen, haben Wissenschaftler der Technischen Universität Berlin die Weltbeschreibung des Ptolemäus entschlüsselt. Sie konnten jeder Ortschaft ihre korrekte Lage zuordnen. Dabei lüfteten die Forscher unter anderem das Geheimnis der sagenumwobenen Insel Thule. Sie liegt den Berliner Geodäten zufolge vor Trondheim in Norwegen .

Claudius Ptolemäus war einer der renommiertesten Gelehrten des Römischen Reiches. Er war griechischen Ursprungs und lebte in Alexandria an der ägyptischen Mittelmeerküste. Seine astronomischen und mathematischen Theorien hatten bis zum Ende des Mittelalters Bestand. Ptolemäus erkannte, dass die Erde eine Kugel war. Er teilte den Planeten in Breiten- und Längenkreise ein; seine Definitionen gelten zum Teil noch heute.

Im zweiten Jahrhundert hatte das Römische Reich seine größte Ausdehnung erreicht, es erstreckte sich von den Britischen Inseln bis nach Arabien. Das Reich war so groß geworden, dass niemand mehr wusste, wie es eigentlich aussah; es gab keine zusammenhängende Landkarte.

Daten von Alexander dem Großen

Deshalb beschloss Ptolemäus, von sämtlichen Siedlungen der bekannten Welt die geographischen Koordinaten zu recherchieren. Er griff dabei auf Daten griechischer Gelehrter zurück, die Jahrhunderte zuvor gelebt hatten. Messtrupps unter Alexander dem Großen beispielsweise hatten die Lage Hunderter Siedlungen in Asien vermessen.

Auch die Griechen Eratosthenes und Poseidonios überlieferten umfangreiche geographische Daten. Sie verstanden es, Positionen anhand des Sonnenstandes auf zehn Kilometer genau zu bestimmen. Eratosthenes berechnete im dritten Jahrhundert vor Christus sogar den Umfang der Erde verblüffend präzise.

Angesichts der vielen Daten und der exakten Vermessungsmethoden erschien es rätselhaft, warum die Beschreibungen von Ptolemäus oft falsch waren. Hatte er doch lediglich die Informationen seiner Vorgänger gesammelt. Seine Tabelle, die so genannte "Geographike Hyphegesis", listete knapp 7000 Stätten mit ihren geographischen Koordinaten.

Lassen sich die historischen Orte rekonstruieren, oder ist das Wissen über das Altertum verloren, fragten sich Geschichtsschreiber. In Berlin ist es nun einem Geodäten in Zusammenarbeit mit zwei Wissenschaftshistorikern gelungen, die Daten zu entschlüsseln.

Die Forscher kamen dem Rätsel auf die Spur, indem sie die Entfernungen bekannter Siedlungen wie Lissabon und Istanbul auf der Liste von Ptolemäus mit den tatsächlichen Distanzen verglichen.

Die geographischen Angaben auf der Liste von Ptolemäus seien systematisch falsch, berichtet Dieter Lelgemann von der TU Berlin: Im Vergleich zu ihren tatsächlichen Standorten, liegen die Orte in Europa im Verhältnis 7 zu 5 zu weit auseinander, erklärt Lelgemann. Westlich von Europa seien die Entfernungen im umgekehrten Verhältnis gestaucht.

Dieser Irrtum fand Eingang in die mittelalterlichen Landkarten, was auch Kolumbus zum Verhängnis geworden wäre, hätte er nicht zufällig Amerika entdeckt.

Die Fehler sind Ptolemäus vermutlich unterlaufen, weil er Maßeinheiten verwechselte, erklärt Lelgemann: Zur Zeit des Römischen Reiches gab es zehn unterschiedliche Definitionen der Entfernungseinheit "Stadion". Ptolemäus habe offenbar die falsche Einheit verwendet, berichten Lelgemann und die Wissenschaftshistoriker Andreas Kleineberg und Eberhard Knobloch.

Neben dem simplen Maßstabsfehler entdeckte Lelgemann noch ein weitaus gravierenderes Problem in den Beschreibungen von Ptolemäus: Ganze Regionen waren um unterschiedliche Distanzen gegeneinander verschoben.

Ein Puzzle von Karten

"Ptolemäus hat offenbar ein Puzzle von Regionalkarten zusammengefügt", meint Lelgemann. Alleine Italien bestehe aus 40 Kartenteilen. Ptolemäus habe die Abschnitte falsch zusammengesetzt, so dass meist große Lücken klafften. Die Abstände zwischen den Karten zu identifizieren, hat die Berliner Forscher Jahre gekostet.

Die korrigierte Weltkarte des Altertums soll nun Historikern zur Verfügung gestellt werden und dürfte noch für manche Überraschung sorgen. Einige Erkenntnisse ergeben sich unmittelbar: Beispielsweise war bislang unklar, auf welchen Seeweg die Römer ausgewichen waren, nachdem die Parther im zweiten Jahrhundert vor Christus die so genannte Seidenstraße gesperrt hatten. Der Handelsweg zwischen Europa und China hatte für das Römische Reich große wirtschaftliche Bedeutung.

Die Häfen, die die römischen Schiffe auf ihrer Ausweichroute übers Meer anliefen, konnten Lelgemann und seine Kollegen bereits ermitteln: Die Flotte landete beispielsweise in der chinesischen Hafenstadt Kattigara - auf der Insel Karimata, westlich von Borneo. Zielhafen war häufig die chinesische Hafenstadt Haiphong, ein bedeutender Handelsplatz des chinesischen Kaiserreiches.

Auch den seit Jahrzehnten tobenden Streit um die Insel Thule konnten die deutschen Forscher entscheiden. Die Mytheninsel wurde im vierten Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Seefahrer Pytheas auf einer Reise nördlich von England gesichtet.

Doch kurz darauf ging das Wissen verloren, um welche Insel es sich handelte. Sowohl Island, die Färöer- und die Shetlandinseln kamen in Frage. Aufgrund der Verwirrungen fand Thule Eingang in zahlreiche mittelalterliche Mythen. Doch nun ist das Geheimnis gelüftet, berichtet Lelgemann: "Thule ist Smøla, eine Insel vor Trondheim in Norwegen."

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Quelle:
SZ vom 5.10.2007
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