Psychosomatik:"Weinen, ohne dass gleich der Psychiater kommt"

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Der Chirurg Bernd Hontschik darüber, was Patienten wollen, Ärzte können sollten, wann Heilung misslingt und über den Grund mancher Operation.

Werner Bartens

Bernd Hontschik, 57, ist psychosomatisch orientierter Chirurg in Frankfurt. In der Thure-von-Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin setzt er sich dafür ein, die Psychosomatik in jeder medizinischen Disziplin zu verankern. Bei Suhrkamp gibt er seit 2006 die Reihe MedizinHuman heraus - sein Buch "Körper, Seele, Mensch" ist als erster Band erschienen. Hontschik schreibt eine Zeitungskolumne, die 2009 unter dem Titel "Herzenssachen" bei Weissbooks herauskam.

(Foto: Barbara Klemm)

SZ: Sind Psychosomatik und Chirurgie nicht ein Widerspruch?

Hontschik: Nur wenn man Psychosomatik als eigenständiges Fach begreift. Dann stehen beide Fächer nebeneinander wie Frauenheilkunde und Innere Medizin. Das entspricht nicht meinem Verständnis. Die Idee, dass es etwas wie Psychosomatik geben muss, stammt wohl daher, dass es in der Schulmedizin so große Defizite gibt. Man konzentriert sich auf die kranke "Körpermaschine".

SZ: Wie merkt man bei einem chirurgischen Patienten mit einer Wunde oder einem Knochenbruch, ob die Seele drückt?

Hontschik: Zunächst steht die Verletzung im Vordergrund. Dann wird weiter behandelt, und man merkt manchmal, dass etwas nicht stimmt, etwa dass der Patient nicht loslassen kann von der Verletzung. Oder eine kleine Wunde erschüttert ihn in seinen Grundfesten. Dazu muss man allerdings aufmerksam sein.

SZ: Fragen Sie gezielt nach seelischen Schwierigkeiten?

Hontschik: Ich beziehe mich auf das Unmittelbare. Wenn jemand mit einer kleinen Verletzung stark weint, hake ich nach. Manchmal kommt dann eine Geschichte, die der Patient versteht und er erkennt, wie es mit ihm zusammenhängt. Es geht nicht darum, dass ich es verstehe.

SZ: Wieso muss der Patient verstehen?

Hontschik: Weil nur er den Weg aus oder mit der Krankheit gehen kann. Ich kann den Weg begleiten, Verbindungen herstellen. Der Patient aber muss seinen Weg gehen, nicht ich.

SZ: Heißt das, wer seine Krankheit nicht versteht, wird nicht gesund?

Hontschik: Den Begriff "Krankheit verstehen" würde ich nie benutzen. Auch nicht "Was Krankheiten bedeuten". Man ist dann schnell bei Schuldvorwürfen: Wenn Sie nur besser auf sich aufgepasst, gesünder gelebt hätten, wäre es nicht passiert - so ein Denken ist mir fremd! Nicht die Krankheit, aber das Kranksein kann man zu verstehen versuchen.

SZ: Kranke als Opfer ihrer selbst?

Hontschik: Das ist der falsche Ansatz. Ein Beispiel: Eine Patientin mit umgeknicktem Sprunggelenk fragt sich, wie ihr das passieren konnte. Ich habe nicht gefragt, in welcher seelischen Verfassung sie war, das führt zu nichts, sondern, was sie arbeitet. Ich will mir vorstellen, in welcher Situation ein Mensch lebt. Sie erzählte von ihrem Job im Museum und dass sie eine Sitzung vorbereiten musste. In dem Moment fällt ihr ein, dass sie ihre Kinder hätte abholen müssen und auf einmal war ihr klar, dass nur ein "Unfall" sie in diesem Konflikt retten konnte.

So musste sie ihren Chef nicht enttäuschen, und auch das Abholen der Kinder löste sich auf - bei einem Unfall kann man jemand anrufen, der das übernimmt. Die Patientin war erleichtert. Sie musste es verstehen. Hätte ich ihr gesagt: Klar, Sie waren im Konflikt zwischen Chef und Mutterrolle, hätte sie mir einen Vogel gezeigt, nach dem Motto: Der Chirurg soll sich um mein Bein kümmern.

SZ: Wie erkennen Sie Probleme?

Hontschik: Ich stelle keine Fragen, um Konflikten auf die Spur zu kommen. Der Patient hat mit seiner Antwort die Freiheit, den Tiefgang eines möglichen Gesprächs selbst zu bestimmen.

SZ: Wie entsteht Raum für tiefere Gespräche? Viele Patienten geben an, dass sie sich vom Arzt nicht gehört fühlen.

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Hontschik: Der Patient muss spüren, dass man sitzen bleiben, zuhören wird. Sonst nichts. Sitzen 50 Leute im Wartezimmer, würde ich die Patienten bitten wiederzukommen, wenn es ruhiger ist.

SZ: Kann man ärztliche Gespräche einfach so führen oder muss man das lernen?

Hontschik: Einen Arzt, der sich nicht auf Patienten einlassen will, kann man rund um die Uhr trainieren, da wird nichts draus. Das muss man wollen. Man muss es als Bestandteil seines Berufs begreifen, anderen Menschen beizustehen. Die andere Voraussetzung ist, dass man mit Kommunikation umgehen kann. Ich muss als Arzt für Patienten als Mensch erkennbar und verständlich sein. Das kann man schon lernen, etwa in einer Balintgruppe, in der Ärzte ihre Fälle vorstellen und sich über das Geschehen und das eigene Verhalten verständigen.

SZ: Gibt es Alarmsignale von Patienten, die den Arzt stutzig machen sollten?

Hontschik: Jede Art von Paradoxie, von Unpassendem. Wenn jemand ständig etwas wiederholt, ist das oft ein Hinweis auf Unausgesprochenes, das den Verlauf stören wird. Entscheidend ist das Gefühl: Hier passt etwas nicht.

SZ: Oft ist der Unterschied zwischen Befund und Befinden enorm groß.

Hontschik: Manche Kranke mit Hüftbeschwerden können kaum gehen. Aber im Röntgenbild sieht es gut aus. Oder umgekehrt: Eine Arthrose hat das Gelenk fast zerstört, aber die Patienten haben kaum Beschwerden. Es ist nicht Aufgabe des Arztes, medizinische Befunde und das Befinden in Übereinstimmung zu bringen. Entscheidend ist das Befinden. Ich behandele ja keine Röntgenbilder.

SZ: Wovor haben die Menschen am meisten Angst beim Arzt?

Hontschik: Vor einer Operation haben alle Angst. Sagt jemand, er hat überhaupt keine Angst, werde ich stutzig. Da würde ich nach früheren Operationen fragen, oder ob jemand immer so furchtlos ist im Leben. Ich versuche dann, eine Brücke zur Angst zu bauen.

SZ: Ist es die Angst vor der Narkose oder die vor den Folgen des Eingriffs?

Hontschik: Beides. Die Narkose wird mit Tod assoziiert, Tod auf Zeit. Und: Patienten haben Angst vor großen Schmerzen. Die Fragen sind immer die gleichen: Werde ich aufwachen, wie geht es mir danach? Manchmal sind Patienten aber auch ärgerlich, wenn nicht operiert wird.

SZ: Wie das?

Hontschik: Blinddarmoperationen waren vor 30 Jahren viel häufiger. Junge Frauen, die länger Bauchschmerzen hatten, kamen in die Klinik, hatten alles dabei, Pyjama, Fernseher. Sie wollten operiert werden, jetzt. Dann haben wir festgestellt, der Wurmfortsatz ist nicht entzündet. Wenn ich das gesagt habe, gab es Krach - besonders mit den Müttern.

SZ: Sie streiten mit Patienten?

Hontschik: Häufig kam das montags vor. Seltsam, Krankheiten haben ja keinen Lieblingstag. Es hat wohl mit familiären Spannungen vom Wochenende zu tun, Kampfsituationen. Die Tochter feiert samstags, macht erste sexuelle Erfahrungen und die Eltern sind beunruhigt. Die Töchter entwickeln Schuldgefühle. Und Spannungen und Schuldgefühle können Bauchschmerzen verursachen.

SZ: Waren die jungen Mädchen krank?

Hontschik: Chirurgisch nicht, aber da bestanden Konflikte. Man könnte bei den Mädchen von "vorgeschobenen Patienten" sprechen, die mit der Operation den Konflikt in der Familie für alle anderen austragen. Wenn man keine Angst vor der Operation wahrnimmt, sollte man aufmerksam werden. Meiner Erfahrung nach kommt es zu Störungen der Wundheilung oder die Schmerzen bleiben, wird so etwas vorher nicht geklärt.

SZ: Wird zu viel operiert?

Hontschik: Vor 20 Jahren sicher noch. Wir haben uns in der Klinik umgestellt. Innerhalb von zwei Jahren ist die Zahl der Blinddarmoperationen von 600 im Jahr auf 150 gesunken. Früher musste man begründen, wenn man nicht operierte - jetzt steht in Arztbriefen, warum man es doch gemacht hat. Heute sind es die massenhaften Gelenkspiegelungen bei schmerzenden Knien, über die man sich Gedanken machen müsste, eine sinnlose Operationsflut, die Patienten unterm Strich keine Besserung bringt.

SZ: Warum werden Menschen krank?

Hontschik: Krankheit ist ein Schicksalsschlag. Da gibt es erst mal kein Warum. Das wird geheimnisvoll bleiben. Macht man bei uns einen Rachenabstrich, könnte man schreckliche Erreger finden, wir sind trotzdem nicht krank. Für mich ist Krankheit eine Passungsstörung, und der Arzt hat die Aufgabe, die Ebenen zu finden, auf denen die Passung gestört ist, ob das Organzellen sind oder der Arbeitsplatz.

Deswegen muss ein Arzt sein Menschenbild kennen. Nach dem Konzept der Schulmedizin ist der Mensch eine komplizierte Maschine. Das lernt man im Studium. Im Beruf stellen die meisten Ärzte fest, dass der Mensch keine Maschine ist, sondern dass es zwischen Ursache und Wirkung etwas anderes gibt, das nichts mit Technik und Maschinen zu tun hat. Ich nenne das Bedeutungserteilung. Das kommt zwischen Ursache und Wirkung, das ändert alles.

SZ: Das müssen Sie erklären.

Hontschik: Die Wirkung einer Ursache ist bei Maschinen vorhersagbar und immer gleich. Bei Lebewesen ist nichts vorhersagbar und alles ständig anders.

SZ: Ein Knochen ist gebrochen, wird operiert, dann funktioniert er wieder.

Hontschik: Ein Mensch läuft wieder, der andere nicht. Bei einem heilt die Wunde, beim anderen nicht. Einem ist es nicht so wichtig, ob er laufen kann, beim anderen hängt alles daran. Ist eine Katze hungrig, jagt sie den Schmetterling. Ist sie satt, schaut sie ihm beim Fliegen zu.

SZ: Kann es auch sein, dass die Hand bei dem am besten heilt, der unglücklich im Beruf ist und privat Stress hat?

Hontschik: Ja, wenn es ihm gelingt, durch Bruch und Krankmeldung den Krach mit der Freundin beizulegen und am Arbeitsplatz Zuwendung zu bekommen, statt weiter gemobbt zu werden.

SZ: Und wenn das nicht klappt?

Hontschik: Dann heilt vielleicht die Hand, aber meine Erfahrung sagt mir, dass er vier Wochen später mit etwas anderem zum Arzt kommen wird.

SZ: Krankheit ist also immer Symbol für ein Nicht-Gelingen?

Hontschik: Ja, aber das Spannende ist: von was? Da hilft kein Ursache-Wirkungs-Denken nach dem Motto: Wenn du dieses Problem hast, wirst du diese Krankheit bekommen. Keiner sucht sich eine Krankheit aus. Man muss sich als Arzt darauf beschränken, verstehen zu wollen: In welcher Lebenssituation ist was geschehen?

SZ: Was ist die wichtigste Fähigkeit, die ein Arzt haben sollte?

Hontschik: Begeistert von seinem Beruf zu sein und einigermaßen über sich selbst Bescheid zu wissen - zu wissen, was man kann und was nicht. Medizinisch, operativ, menschlich.

SZ: Ich hätte gedacht, Sie sagen: sich einfühlen und zuhören können.

Hontschik: Aber das sind doch Voraussetzungen für einen guten Arzt. Wenn man nicht neugierig ist, sich nicht für die Fragen des Lebens und die unendlich vielen Facetten von Gesundheit und Krankheit begeistern kann, ist man Mediziner geworden, aber kein Arzt.

SZ: Was ist der größte Mangel in der gegenwärtigen Medizin?

Hontschik: Es wird immer schwerer, Arzt zu sein, wie ich es mir vorstelle. Das technische Maschinenmodell nimmt überhand. Die Menschen werden immer stärker über einen Kamm geschoren. Alle Diabetiker kommen in ein Programm. Außer einer bestimmten Stoffwechselstörung wüsste ich nicht, was zehn Diabetiker gemeinsam haben.

Ginge es in der Medizin nur um die Stoffwechselstörung, könnte man das vielleicht in Programmen regeln - wofür braucht man dann noch Ärzte? Klar, man muss alles wissen über den Insulin-Stoffwechsel. Aber alles andere ist so bunt wie das Leben.

SZ: Aber es gibt doch Gemeinsamkeiten in der Diagnose und Therapie.

Hontschik: Ja, aber wenn sich zehn Menschen das Handgelenk gebrochen haben, ist der eine auf Glatteis ausgerutscht, der andere hat einen Suizidversuch gemacht. Der nächste hat Osteoporose, ein weiterer hat sich geprügelt.

SZ: Gesundheitspolitiker loben den medizinischen Fortschritt.

Hontschik: Welchen Fortschritt meinen Sie?

SZ: Neue Krebstherapien, Kernspin, CT, Organstransplantationen...

Hontschik: Technische Möglichkeiten werden besser, aber den Kranken geht es nicht besser. Früher hat man Patienten mit Knieschmerzen genau untersucht, heute kommen sie gleich ins Kernspin. Der Patient wird einsamer zwischen den technischen Prozeduren. Das wird verschlimmert durch enorme Rationalisierung, die Arbeitshetze durch Personaleinsparungen und Bettenstreichungen.

SZ: Profitieren Patienten denn nicht vom Fortschritt?

Hontschik: Technische Verbesserungen gehen nicht mit besserer Lebensqualität einher, wenn sie nicht von ärztlicher Begleitung getragen werden. Leider wird unser Gesundheitswesen zu einer Gesundheitswirtschaft umgewandelt. Rendite für Investoren steht ganz vorne, das Wohl des Kranken muss sich dem unterordnen, also auch die Arbeit des Arztes.

SZ: Was zählt für Patienten wirklich?

Hontschik: Krebskranken ist es wohl wichtig, dass sie in der Klinik jemand finden, der mit ihnen spricht, dass sie weinen können, ohne dass gleich der Psychiater kommt. Das hat mit technischem Fortschritt nichts zu tun. Technischer Fortschritt steht den zutiefst ärztlichen Tätigkeiten des Tröstens, Heilens, Zuhörens und Daseins immer mehr im Weg.

SZ: Was ist Medizin: Kunst, Naturwissenschaft, Technik?

Hontschik: Medizin ist Kunst, Heilkunst. Man braucht handwerkliche Fähigkeiten, naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse. Operieren kann man jedem unerschrockenen Handwerker beibringen. Was den Handwerker zum Arzt macht, ist, dass er mit einem kranken Menschen eine Beziehung eingeht. Wer das nicht kann, ist kein Arzt.

SZ: Wissen Sie, was gesund ist?

Hontschik: Kampagnen zur gesunden Ernährung und Bewegung sind sehr in Mode. Sie langweilen mich. Gesund ist, wenn ein Mensch mit sich und der Welt im Gleichgewicht lebt und seine Passung gefunden hat. Das kann auch jemand sein, der massives Übergewicht hat und der mehr trinkt, als wir beide gut finden.

© SZ vom 11.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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