Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Zeig mir deine Wunde

In sozialen Netzwerken können sich Menschen mit psychischen Leiden "infizieren". Das gilt auch für Störungen, die zur Selbstverletzung oder Selbsttötung führen können.

Nikolas Westerhoff

Es soll immer noch Jugendliche geben, die sich treffen, um Briefmarken oder Fußballbilder zu tauschen. Anders geht es mittlerweile in vielen Ecken des Internets zu: "Gestern träumte ich davon, mich mit einer Rasierklinge zu verletzen", schreibt eine 22-Jährige, die sich "Emily the Strange" nennt, in einem auf Selbstverletzungen spezialisierten Online-Forum: "Ich kriege das Bild einfach nicht aus dem Kopf."

Emily ritzt sich seit Jahren; im Internet berichtet sie über ihre Erfahrung und berät sich mit anderen Ritzern, wie sie ihre Sucht am besten vor den Eltern verheimlicht. Und sie tauscht Bilder - Fotos ihrer Wunden.

Die Online-Gemeinschaft ist eine verschworene Clique, die jedem Neuankömmling das Gefühl gibt, dass er seine Lust an der Selbstverstümmelung getrost ausleben kann. Darin ist die bizarre Gemeinschaft nicht allein.

Wie die Psychologen Janis Whitlock, Jane Powers und John Eckenrode von der Cornell University ermittelt haben, gab es im Jahr 1998 lediglich eine einzige Netzgemeinschaft mit 91 Mitgliedern zum Thema Selbstverstümmelung. Im Jahr 2002 waren es bereits 28, derzeit sind es um die 400. Eine solche Störung breitet sich schnell aus, wenn es den entsprechenden Resonanzboden gibt. Die Psychologen sprechen von "sozialer Ansteckung".

Das Phänomen ist nicht neu: Der Medizinhistoriker Justus Hecker berichtete im 19. Jahrhundert über die sogenannte Tanzwut, die sich etwa in Aachen im Jahr 1374 kurz nach der großen Pest ausbreitete: "Hand in Hand schlossen sie Kreise, und ihrer Sinne anscheinend nicht mächtig, tanzten sie stundenlang in wilder Raserei, ohne Scheu vor den Umstehenden, bis sie erschöpft niederfielen." Auch wenn, wie häufig angenommen, die drogenähnliche Wirkung von Pflanzengiften als Ursache hinzukam, hatte die spezielle Ausprägung der Symptome eindeutig sozialen Charakter.

Bereits 1974 wies zudem der Soziologe David Phillips nach, dass sich Menschen eher umbringen, wenn sie von den Suiziden anderer hören oder lesen. So korrelierte die Selbstmordrate in den Jahren 1947 bis 1968 mit der Suizid-Berichterstattung in der New York Times: Machte die Zeitung mit dem Thema auf, stieg die Zahl der Selbstmörder.

Dennoch wissen nur wenige, dass auch psychische Störungen von einem Menschen zum anderen springen können: So brachen am 30. Januar 1962 in einem Dorf in Tansania drei Mädchen in unkontrolliertes, hysterisches Lachen aus; am 18. März litten bereits 95 Schülerinnen unter dieser seltsamen Krankheit. Zehn Tage später erreichte die Lachhysterie einen 90 Kilometer entfernten Ort und infizierte 217 Personen: Am Ende lachten Tausende.

Eingang in offizielle Diagnosekataloge der Psychiatrie hat die ansteckende neurotische Störung namens Koro gefunden, die nur Männer betrifft. Die Betroffenen glauben irrigerweise, dass sich ihr Penis in den Körper zurückzieht und darin verschwindet, was bei ihnen zur Panik führt. In Ländern wie Thailand, Malaysia und Nigeria breitete sich diese Angststörung in den Jahren 1967, 1976 und 1990 epidemisch aus - ganz im Stil einer klassischen Infektionskrankheit.

Ansteckende Rückenschmerzen

Auch Rückenschmerzen sind nach Ansicht der Sozialmediziner Heiner Raspe und Angelika Hüppe von der Universität Lübeck eine ansteckende Krankheit. Ihre Analyse der Gesundheitssurveys aus West- und Ostdeutschland zeigte, dass es vor der Wiedervereinigung im Osten kaum Menschen mit Rückenproblemen gab. Zehn Jahre später hatten die Ostdeutschen aufgeholt - sie lagen nun in puncto Rückenleiden mit den Wessis gleichauf: Das soziale Netz Ost hatte vom sozialen Netz West gelernt.

Für den Mediziner und Soziologen Nicholas Christakis von der Harvard University sind derartige soziale Epidemien eindruckvolle Belege für die Macht eines sozialen Netzwerkes - die selbst vor dem Essverhalten nicht haltmacht. So wertete Christakis gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler James Fowler die Netzwerkkontakte von mehr als 5000 Menschen aus.

Mittels umfassender statistischer Prozeduren wiesen die Forscher nach, dass die Gewichtszunahme davon abhing, ob die drei engsten Netzwerkmitglieder eines Menschen zu- oder abnahmen. "Gewichtszunahme wurde nicht nur zwischen Freunden weitergegeben", so Christakis. "Ehepartner und Geschwister beeinflussten einander genauso wie Kollegen in kleinen Unternehmen, in denen jeder jeden kennt." Wichtig waren also auch Menschen, mit denen die Betroffenen höchstens einzelne Mahlzeiten gemeinsam einnahmen.

Was Menschen fühlen und wie sie sich verhalten, entscheiden sie nicht allein. Auch die Psyche kann sich der Macht des Sozialen nicht entziehen. Die weit gespannten Online-Netzwerke verstärken die Macht der sozialen Epidemien - mit ungewissem Ausgang.

Zum einen ermöglichen sie Jugendlichen eine schnelle und unkomplizierte Kommunikation, zum andern fördern sie Magersucht, Vandalismus und Suizide: "Noch so unbedeutende, abwegige oder negative Gedanken und Impulse, die in früheren Generationen einfach verpufft wären, erhalten hier sofort Feedback und werden verstärkt", warnt Christakis. "Die Zielgerichtetheit, Breite und Unmittelbarkeit der sozialen Netzwerkkultur im Internet macht es sehr viel wahrscheinlicher, dass sich solche Verhaltensweisen ausbreiten."

Natürlich hätten sich Jugendliche schon immer gegenseitig beeinflusst, so der Harvard-Mediziner, doch es sei früher schwieriger gewesen, Bestätigung für das eigene Verhalten zu finden. "Heute liegt sie nur einen Mausklick entfernt."

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SZ vom 24.09.2010/mcs
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