Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Warum Menschen gerundete Zahlen bevorzugen

Weil exakte Zahlen mit Nachkommastellen schrill und exotisch wirken, schätzen viele ihren Wert falsch ein.

Von Julian Rodemann

Wenn tatsächlich ein Impfstoff gegen das Coronavirus auf den Markt kommen sollte, stünden die Gesundheitsbehörden vor einer neuen Herausforderung. Sie müssten der Bevölkerung erklären, wie der Impfstoff wirkt. Eine Frage, die sich hier oft stellt: Sollten Zahlen gerundet oder exakt präsentiert werden? Kämen die klinischen Studien - rein hypothetisch - zu dem Ergebnis, dass der gefundene Impfstoff bei 91,27 Prozent der Bevölkerung wirkt, könnte man von "exakt 91,27 Prozent Wirksamkeit" sprechen - oder aber auf 90 Prozent abrunden. In einer neuen Studie haben Psychologen um Gaurav Jain herausgefunden, dass Menschen gerundete Angaben wie 90 Prozent der genauen Variante vorziehen - und sie als höher im Gedächtnis behalten als die 91,27 Prozent.

Menschen sind keine Maschinen. Wenn sie quantitative Informationen verarbeiten, speichern sie keine exakte Ziffernfolge ab, sondern merken sich Zahlen in ihrem Kontext; sie erinnern sich eher an ihre Bedeutung als an ihren genauen Wert. Dass also die 91,27 Prozent nicht mit allen Nachkommastellen in Erinnerung bleiben, dürfte jedem bekannt vorkommen. Doch warum nehmen Menschen diese Zahl als kleiner als 90 Prozent wahr?

Gaurav Jain und sein Team fanden heraus, dass ungerundete Zahlen wie die 91,27 als einzigartig und schrill aufgefasst werden - wie ein Punk, der aus einer Masse von Anzugträgern hervorsticht. Genau wie wir länger auf den Punk schauen als auf einen x-beliebigen Anzugträger, so widmen wir auch der 91,27 mehr Aufmerksamkeit als der vertrauten 90. Die Wissenschaftler ließen Probanden Texte lesen, in denen mal exakte, mal gerundete Zahlen standen. Mittels Eye-Tracking, also des Aufzeichnens der Blickrichtungen, stellten sie fest, dass die Augen der Probanden deutlich länger bei nicht gerundeten Zahlen verharrten als bei gerundeten.

91,27 Prozent wirken kleiner als 90 Prozent

Die 91,27 erscheint exotisch und neu; wahrscheinlich haben viele Menschen genau diesen Wert noch nie zuvor gesehen. Deshalb, so schreiben Jain und seine Kollegen, zögen viele einen Vergleichswert heran, um die 91,27 Prozent irgendwie einordnen zu können. In diesem Fall seien die vollen 100 Prozent der "einfach zu verstehende ideale Standard" . Weil die 91,27 Prozent kleiner als dieser Standard sind, sinke unsere Einschätzung der Zahl, schreiben Jain und Kollegen in ihrer Studie, die im Fachmagazin Organizational Behavior and Human Decision Process erschienen ist. Umgekehrt gelte für kleine ungerundete Zahlen wie etwa 7,69 Prozent, dass sie mit null Prozent verglichen werden - und dadurch größer gemacht werden, als sie sind. Die Psychologen um Jain stellten ihren Probanden Fragen wie diese: "Es wurde eine neue Behandlungsmethode für eine Krebsform entwickelt. Die Erfolgsrate ist 81,64 Prozent. Wie denken Sie über die neue Methode?" Bei einem Teil der Studienteilnehmer tauschten sie 81,64 Prozent gegen 80 Prozent aus - und tatsächlich schätzten später diese Probanden die Behandlungsmethode als erfolgreicher ein.

Aus statistischer Sicht sind Werte wie 81,64 Prozent oder 91,27 Prozent übrigens ohnehin Unfug, wenn es um Prognosen geht. Ein Impfstoff wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht bei exakt 91,27 Prozent der Bevölkerung wirken. Wissenschaftler geben deshalb meist Intervalle an, also etwa den Bereich zwischen 90 und 93 Prozent. Ob Menschen Prozentangaben wie den 91,27 auch deshalb misstrauen, haben die Psychologen allerdings nicht untersucht.

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