Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Warum Menschen einander so gerne beobachten

Ob in der S-Bahn oder im Café: Viele Menschen beobachten andere heimlich mit großem Interesse. Und werden selbst Opfer der "Tarnkappen-Illusion".

Von Sebastian Herrmann

Gelegentlich keimt eine gewisse Scham vor dem eigenen Selbst auf. Ist es nicht unangemessen, andere Menschen im Café, in der S-Bahn oder sonstwo so interessiert zu beobachten? Sicher verhalten sich andere keinesfalls auf diese Weise, glaubt der Glotzende - und schämt sich ein wenig.

Einen selbst, so spinnt sich der Gedankengang weiter, beobachtet sicher keiner der Anwesenden mit auch nur annähernd ähnlichem Interesse. Was für ein Unsinn! Psychologen um Erica Boothby von der Universität Yale berichten im Journal of Personality and Social Psychology, dass die meisten Menschen glauben, sie selbst beobachteten Personen in ihrer Umgebung intensiver, als andere das tun; und zudem zeigen sich die meisten überzeugt, dass sie selbst geringes Interesse hervorrufen: Sie fühlen sich unbeobachtet, obwohl sie sehr wohl gemustert werden.

Die "Tarnkappen-Illusion" haben die Psychologen das Phänomen getauft, das sie in der Studie beschreiben. In zahlreichen Experimenten mit mehreren Hundert Teilnehmern zeigte sich, dass jeder mit Interesse andere Anwesende mustert und zugleich systematisch unterschätzt, wie sehr er selbst beobachtet wird. Das registrierten die Forscher sowohl in Befragungen als auch in Versuchen in einer Uni-Mensa. Sogar, wenn sich zwei Personen alleine gegenübersaßen, hielten sich die meisten Teilnehmer selbst für ungebührliche Beobachter, die andersherum kaum von dem jeweiligen Gegenüber gemustert würden.

Die Ergebnisse fügen sich nahtlos in einen reichen Kanon von Studien ein, die sich mit der oft sehr großen Diskrepanz von Selbst- und Fremdeinschätzung befassen. Zum Beispiel haben zahlreiche Veröffentlichungen gezeigt, dass sich die meisten Menschen von ihren Freunden tendenziell unverstanden fühlen. Sie selbst reklamieren hingegen für sich, dass sie gut wissen, was ihre Bekannten beschäftigt und ausmacht. Wie Boothby zeigt, fühlen sich die meisten nicht nur unverstanden, sondern auch unbeobachtet. Das liege zum einen daran, dass Menschen gut darin sind, ihre Blicke zu kaschieren und zu verbergen, dass sie die anderen im Raum gerade beobachten.

Und wenn sich die Blicke zweier Personen doch zufällig treffen, dann kapiert der Beobachtete es oft immer noch nicht: Dann fallen ihm zahlreiche andere Begründungen für den Blick des anderen ein. Über die eigenen Gedanken herrscht hingegen Klarheit: Wenn die anderen Personen im Raum Interesse in einem wecken, dann ist dem Beobachter das natürlich bewusst. So halten sich die meisten also fälschlicherweise für Glotzer, nicht aber für Angeglotzte.

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Quelle:
SZ vom 21.12.2016
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