Psychologie:Stromstöße für das große Ganze

Blinder Gehorsam oder edle Motive? Um die Deutung der berüchtigten Milgram-Experimente entbrennt neuer Streit. Den Teilnehmern wurde einst vorgegaukelt, sie würden Menschen Elektroschocks verpassen.

Von Sebastian Herrmann

Der Schock dauert an. Was Stanley Milgram in den 1960er-Jahren in einem Labor der Yale University inszenierte, erschüttert noch immer. Der Forscher brachte erschreckend viele Probanden dazu, einem anderen Menschen potenziell tödliche Stromstöße zu verpassen. Das Milgram-Experiment ist bis heute einer der bekanntesten und sicher umstrittensten Versuche der Psychologie - und wird noch immer kontrovers diskutiert. Weithin gelten die Ergebnisse als Beleg für die Banalität des Bösen; dafür, dass Menschen bereit sind, andere zu verletzen oder gar umzubringen, wenn sie von einer Autoritätsperson dazu gedrängt werden; dass sie zu blindem Gehorsam fähig sind.

Psychologen um Alexander Haslam von der University of Brisbane legen im British Journal of Social Psychology (online) eine neue Deutung vor. Die Teilnehmer der vielen Versuchsreihen hätten sich nicht aus blindem Gehorsam dazu verleiten lassen, einen anderen zu quälen, so ihre Argumentation. Sie hätten vielmehr im Namen eines höheren Ziels gehandelt. Das schließen die Forscher aus Notizen von den Testreihen der 1960er-Jahre, die sie an der Universität Yale eingesehen haben. Viele Probanden äußerten darin, dass sie im Namen der Wissenschaft richtig gehandelt hätten.

Wer oder was verführte die Teilnehmer? Das ist wohl die entscheidende Frage

"Ich habe das Gefühl, ein bisschen zur Entwicklung des Menschen und seinem Umgang mit anderen beigetragen zu haben", sagte zum Beispiel ein Proband. Andere äußerten Dankbarkeit dafür, dass sie an einem so bedeutenden Experiment teilnehmen konnten. Solche Aussagen scheinen angesichts des Versuchsaufbaus ungeheuerlich: Den Teilnehmern wurde vorgegaukelt, das Experiment untersuche die Wirkung von Bestrafung auf den Lernerfolg. Der Proband stellte einem Teilnehmer in einem Nebenraum Fragen, falsche Antworten sollten mit einem Stromstoß geahndet werden. Nach jedem Fehler sollten die Schocks um 15 Volt gesteigert werden, bis hin zu tödlichen 450 Volt. Bis zu 65 Prozent der Teilnehmer gingen bis zum Äußersten, obwohl sie Schmerzensschreie, Wimmern und Jammern aus dem Nebenzimmer hörten. Die Agonie des Gepeinigten war selbstverständlich nicht echt, die Schreie kamen von einem Band, niemand erhielt wirklich Stromstöße.

Doch waren es Drängen und Autorität des Versuchsleiters, der die Probanden verleitete, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen? Oder der Umstand, dass Milgram vor den Versuchen allen eingeimpft hatte, dass die Tests dem Fortschritt der Wissenschaften dienen würden? Womöglich Letzteres. Anderseits handelt es sich bei den Aussagen der Teilnehmer eventuell auch um Versuche der Selbstrechtfertigung von Menschen, die ihr eigenes Handeln erschüttert hatte. Die Deutung wird andauern.

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