Krisenbewältigung:"Rituale puffern den Schock ab"

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Was verleiht Menschen nach tragischen Ereignissen neue Kraft? Der Psychosomatiker Christian Ehrig über seelische Not, Scham und geeignete Hilfen in Lebenskrisen.

Katrin Blawat

Wer schwer erkrankt, plötzlich den Arbeitsplatz verliert oder vom Tod eines Familienmitglieds erfährt, verliert oft die Kraft, sich weiterhin im Leben zurechtzufinden. Wie man auch in solchen Situationen wieder stark werden kann, sagt Christian Ehrig, Oberarzt an der Psychosomatischen Klinik in Roseneck am Chiemsee. Er ist spezialisiert auf die Behandlung von Menschen, die einen Schicksalsschlag erlitten haben.

Christian Ehrig ist Oberarzt an der Psychosomatischen Klinik in Roseneck. (Foto: Schön-Klinik)

SZ: Was kann man tun, um mit Kündigung, Krankheit oder dem Tod nahestehender Menschen zurecht zu kommen?

Ehrig: Zunächst sollten Familie und Freunde eine Anlaufstelle sein. Sie bieten erste emotionale Unterstützung. Auch Rituale helfen dabei, wieder in geordnete Strukturen zurückzufinden. Den Tod eines nahestehenden Menschen beispielsweise erleidet fast jeder von uns im Laufe seines Lebens. Für solche Ereignisse gibt es ritualisierte Umgangsformen im religiösen und kulturellen Kontext; so war früher das Tragen schwarzer Kleidung im Trauerjahr üblich. Rituale helfen, den ersten Schock abzupuffern.

SZ: Gibt es eine Art Notfallprogramm, auf das man sofort nach einer schockierenden Nachricht zurückgreifen sollte?

Ehrig: Wenn es mit der Familie und dem Freundeskreis nicht funktioniert, kann man sich an ein Seelsorge-Telefon und den Hausarzt wenden. Es gibt viele Betreuungsangebote, aber wer gerade von einem Schicksalsschlag getroffen wurde, kann oft nicht entscheiden, welches das passende ist und ob es sich um ein seriöses Angebot handelt. Außerdem reagieren viele Menschen auf ein außergewöhnliches Ereignis wie das Kaninchen vor der Schlange: Sie werden handlungsunfähig.

SZ: Hilft es Betroffenen zu merken, dass sie nicht als Einzige leiden?

Ehrig: Das ist eine enorme Entlastung. Selbsthilfegruppen bieten diese Erfahrung, deshalb sind sie extrem hilfreich. Man erhält dort professionelle Unterstützung durch Ärzte oder Psychologen, die die Gruppen begleiten. Vor allem aber profitieren die Betroffenen von der Unterstützung untereinander. In unserer Klinik erleben wir immer wieder, dass Patienten Schamgefühle wegen ihrer seelischen Nöte haben, die andere Leute kaum verstehen können. Zu Hause denken die Patienten, sie seien irgendwie komisch. In der Klinik merken sie, dass andere die gleichen Probleme haben.

SZ: Raten Sie in jedem Fall dazu, Verwandten, Freunden und Kollegen von eigenen Nöten zu erzählen?

Ehrig: Menschen sind soziale Wesen, und die soziale Kommunikation läuft im Wesentlichen über das gesprochene Wort. Je mehr ich über das Ereignis und meine Gefühle rede, umso größer sind die Chancen, dass ich mein inneres Chaos ordnen kann.

SZ: Oft haben die Betroffenen Angst vor der Reaktion ihrer Mitmenschen.

Ehrig: Man sollte sich gut überlegen, in welchem Rahmen man welche Informationen weitergibt. Wer plötzlich den Arbeitsplatz verliert oder den Tod eines Familienmitglieds erlebt, erhält in der Regel von allen Seiten viel Verständnis und Unterstützung. Etwas anderes ist es, wenn ich zum Beispiel erfahre, dass ich HIV-positiv bin. Ob ich das meinem Arbeitgeber erzähle, würde ich mir schon sehr gut überlegen. Geeigneter sind dann vielleicht anonyme Selbsthilfegruppen.

SZ: Wie schnell soll man sich um professionelle Hilfe bemühen?

Ehrig: So bald wie möglich. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass man in dem Schockzustand, der anfänglich völlig normal ist, festfriert oder Ängste und Schamgefühle eskalieren. Auch Menschen, die sich ansonsten gut im Leben zurechtfinden, ihren Beruf ordentlich ausüben und eine Familie gegründet und Freunde haben, können an ihre Grenzen kommen. Wenn ich nach einem Todesfall in der Familie nach einem Jahr nicht merke, dass sich meine Stimmung deutlich bessert, sollte ich mir Hilfe holen. Nach einer Kündigung sind vielleicht zwei Monate ein angemessener Zeitraum. Wenn das alltägliche Leben längerfristig beeinträchtigt ist, kann das soziale Netzwerk allein nicht mehr helfen.

SZ: Kann man aus Schicksalsschlägen lernen?

Ehrig: Menschen, die gelernt haben, dass sie bestimmte Ereignisse akzeptieren müssen, haben eine besondere Art der Lebensweisheit und Stärke erlangt. Sie verdrängen das Ereignis nicht, sondern bauen es in ihre Biographie ein. Viele Betroffene beginnen zu malen oder schreiben Bücher und distanzieren sich so von ihrem Schicksal. Allerdings ist auch diese Haltung keine Garantie dafür, dass einen nicht beim nächsten Mal ein anderes Ereignis niederstrecken kann.

© SZ vom 30.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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