Süddeutsche Zeitung

Psychologie:Gute Mitläufer, böse Mitläufer

Mitläufer gelten als schwach und ängstlich. Warum sich Menschen trotzdem so oft dem Verhalten einer Gruppe anpassen.

Von Sebastian Herrmann

Diversität lautet einer jener Begriffe, die in den vergangenen Jahren Karriere gemacht haben. Vielfalt klingt ja auch nach einer feinen Idee. Warum sollte sich die vielfältige Individualität der Menschen nicht auch in Teams widerspiegeln, die zusammen arbeiten, leben und leiden? Die Forderung nach Diversität bezieht sich gegenwärtig meist auf äußere Merkmale der Menschen - auf das Geschlecht, die Hautfarbe, die Herkunft und andere unveränderliche Attribute. Auf diese Weise, so argumentieren die Befürworter, würden neue, wertvolle Perspektiven und Sichtweisen auf die Dinge ermöglicht, die jeweilige Gemeinschaft als Ganze profitiere davon. In der Theorie jedoch tritt das Milieu, das sich am lautesten für die beschriebene Form der Diversität starkmacht, als höchst homogene, konforme Blase auf: Alle scheinen die gleiche Sicht auf die Dinge, die gleiche Vorstellung von Richtig und Falsch sowie Gut oder Böse zu haben und abweichende Meinungen heftig zu attackieren. Kurz: Irgendwie pflegen doch alle diese Menschen unter dem Schirm der Vielfalt die gleiche Perspektive.

In diesem Widerspruch offenbart sich die menschliche Ambivalenz zum Thema Konformität. Auf der einen Seite wird Personen applaudiert, die der Linie einer Partei folgen, die Werte einer Gruppe vertreten oder sich sonst irgendwie konform zeigen. Zugleich provozieren Mitläufer aber Kritik und Abwertung: "Konformisten werden oft als schwach, ängstlich und rückgratlos betrachtet", schreiben die Psychologen Matthew Wice und Shai Davidai in einer aktuellen Studie im Fachjournal Personality and Social Psychology Bulletin. Darin präsentieren die Wissenschaftler einen Hinweis darauf, was die widersprüchliche Bewertung von Konformität antreibt: Versuche mit etwas mehr als 800 Probanden legten nahe, dass das "angenommene Motiv" für Mitläufertum das Urteil darüber prägt.

Wer aus - vermeintlichem - Eigeninteresse als Mitläufer auftrete und sich der Mehrheitsmeinung einer Gruppe unterwerfe, so Wice und Davidai, ernte negative Reaktionen. Stehe hinter konformem Verhalten hingegen das - vermeintliche - Motiv, die Interessen der Gruppe zu schützen oder sich für die Belange Einzelner einzusetzen, dann werde das als "guter Konformismus" betrachtet. Einen ähnlichen Zusammenhang haben andere Studien bereits zum Thema Lügen beobachtet. Eine Lüge wird dann als besonders verwerflich betrachtet, wenn sie vor allem dem Eigeninteresse dient. Wohlwollende Lügen gelten hingegen als gut, ja sogar besser als harte Ehrlichkeit.

Ketzer werden aus der Gruppe ausgeschlossen

Vermutlich lässt sich die Kernbotschaft der beiden Psychologen sogar auf den Faktor Gruppenloyalität reduzieren: Konformität ist dann gut und erwünscht, wenn es der eigenen Seite in emotional geführten Auseinandersetzungen dient. Abweichende Haltungen werden hingegen verfemt, abgewertet und die Menschen dahinter aus der Gruppe exkommuniziert. Gerade in Zeiten politischer Polarisierung und der digitalen Pranger namens Twitter oder Facebook unterwerfen sich die an sich individualistischen Gesellschaften des sogenannten Westens neuer Konformitätszwänge: Bloß nicht gegen die jeweils herrschende Orthodoxie verstoßen, sonst droht sozialer Ausschluss. Vordergründig wird dann brav erklärt, man würde sehr gerne auch mal Gegenpositionen hören. Wenn es dann aber soweit ist, klappern die Zähne oder steht der Schaum der Wut vor dem Mund.

Dahinter stecke der tiefe menschliche Wunsch nach Anerkennung und Reputation, schreibt Cass Sunstein in seinem 2019 erschienen Buch "Conformity". Darin demonstriert der Harvard-Forscher auch eindrücklich, wie sich Gruppen radikalisieren, in denen konforme Meinungen vertreten sowie Abweichler vertrieben oder zum Schweigen gebracht werden. Kurz gesagt, werden nach einer Weile nur mehr die lautesten und radikalsten Stimmen gehört. Sie erhalten Aufmerksamkeit und Status in der Gruppe, indem sie die ohnehin geltenden Werte der Gruppe immer schärfer zuspitzen und radikalisieren.

Lieber beim Shitstorm mitmachen als selbst etwas abbekommen

Ob die einzelnen Personen dann selbst glauben, was sie sagen? Wer weiß, entscheidend ist, dass alle anderen das glauben und ihre Zweifel zugunsten der Gruppe für sich behalten. Wie das konkret aussehen könnte, zeigen gerade die Psychologinnen Jillian Jordan und Nour Kteily in einer auf einem Preprint-Server veröffentlichten Studie. In Versuchen mit fast 5000 Probanden zeigte sich, dass Studenten auch dann vermeintliche Übeltäter bestrafen beziehungsweise sich an einem Shitstorm gegen solche Figuren beteiligen, wenn sie selbst Zweifel an den kolportierten Vergehen hegen oder diese Situationen sehr uneindeutig waren. Die vermeintlich rechtschaffene öffentliche Erregung sei jedoch ein Mittel, um effektiv Reputationsmanagement zu betreiben: In die konforme Empörung einzustimmen, sei schlicht eine attraktive Gelegenheit, sich selbst öffentlich als tugendhaft zu positionieren, argumentieren Jordan und Kteily.

Der erste menschliche Reflex auf solche Aussagen besteht natürlich darin, für sich selbst derlei Tendenzen abzustreiten. Natürlich, so sagen auch Wice und Davidai in ihrer aktuellen Studie, gelten einem alle anderen Menschen grundsätzlich eher als Mitläufer, die das auch noch aus niederen Motiven machen. Sich selbst halten die meisten hingegen für unbequeme Denker, für kritische Denker, die natürlich niemals mit den Wölfen heulen würden, wenn Fakten oder andere gewichtige Gründe dagegenstehen. Das ist natürlich Quatsch, die Tendenz zum Mitläufertum steckt in jedem, darin sind sich Menschen auf höchst konforme Weise gleich.

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