Psychologie:Mit Vollgas in den Untergang

Die Angst vor dem Verlieren: Beharrlichkeit ist gefragt, wenn es gilt, ein hohes Ziel zu erreichen. Doch leider neigen wir dazu, auch noch daran festzuhalten, wenn Aufgeben längst klüger wäre.

Nikolas Westerhoff

Verliere dein Ziel nie aus den Augen. Führe zu Ende, was du angefangen hast. Sei beharrlich! So klingen die Lebensweisheiten erfolgreicher Sportler, Manager oder Forscher.

Psychologie: Manchmal ist es besser, von einem zu hoch gesteckten Ziel Abstand zu nehmen. Das gilt für den Marathonlauf, das Geschäftsleben und die Liebe.

Manchmal ist es besser, von einem zu hoch gesteckten Ziel Abstand zu nehmen. Das gilt für den Marathonlauf, das Geschäftsleben und die Liebe.

(Foto: Foto: dpa)

Die Botschaft der Gewinner ist klar. Wer etwas erreichen will, muss hart zu sich selbst sein und unbeirrt an seinen Zielen festhalten.

Doch nicht jeder gelangt dorthin. Kondition und Selbstvertrauen sind gefragt. Das Leben gleicht einem Marathonlauf. Irgendwo im Niemandsland zwischen Start und Ziel stellt sich die Sinnfrage. Aufgeben oder Weitermachen? "Handlungskrise" nennen Psychologen das.

"Der Läufer ist sich nicht mehr sicher, ob er an seinem Ziel festhalten oder sich davon ablösen soll", sagt die Motivationspsychologin Veronika Brandstätter von der Universität Zürich. Marathonläufer geraten etwa bei Kilometer 30 in ein Formtief, weil der Körper von Zucker- auf Fettverbrennung umstellt.

"Diese körperliche Krise führt auch zu einer mentalen," sagt Brandstätter, die vor kurzem Marathonläufer interviewt hat. "Der Läufer weiß nicht mehr, ob er das Ziel erreichen kann und will." Die einen geben auf, die anderen machen weiter. Beim Marathon wie im richtigen Leben.

"Menschen setzen sich dauernd Ziele in weiter Ferne und arbeiten darauf hin", sagt Brandstätter. Sie wollen beispielsweise 42 Kilometer weit laufen. Silberne Hochzeit feiern. Medizin in Harvard studieren. Den Himalaja erklimmen. Manche Ziele sind realistisch, andere utopisch. Wissenschaftler sprechen von Commitment. Zu Deutsch: Hingabe.

"Damit ist gemeint, dass wir uns Ziele setzen, die wir erreichen wollen und an die wir uns gebunden fühlen", erklärt der Organisationspsychologe Roman Soucek von der Universität Nürnberg. "Wir schätzen Menschen, die an ihren Zielen festhalten und Widerständen trotzen." Wer ein Ziel erreicht, das andere für unerreichbar halten, ist ein Held.

Problematisch wird es, wenn die Ziele unrealistisch sind. Zwar sei Beharrlichkeit gefragt, wenn es gilt, ein hohes Ziel zu erreichen, sagt Soucek. Doch jede Zielbindung könne auch eskalieren. Dann nämlich, wenn Menschen nicht mehr bereit sind, ihre Entscheidungen zu korrigieren - trotz erwartbarer negativer Folgen.

"Im ökonomischen Bereich ist dieser Zustand erreicht, wenn Menschen immer mehr Geld in etwas investieren, in das sie bereits sehr viel vergeblich hineingesteckt haben." Wird das Commitment zu stark, pumpen zum Beispiel Manager unaufhörlich Geld in ein schlechtes Projekt. Oder es zeigt sich dort, wo Entscheidungsträger etwa am Bau eines Zuges oder eines Atomkraftwerkes festhalten, obwohl sich die Kosten längst verzehnfacht haben.

Zahlreiche Experimente untermauern das Risiko des Kontrollverlusts. In einem typischen Labor-Szenario muss ein Proband entscheiden, ob seine Firma in Produkt A oder Produkt B investieren soll. Entscheidet er sich für ein Produkt, bekommt er die Rückmeldung, dass sich dieses am Markt schlechter behauptet als das andere. Daraufhin muss die Versuchsperson erneut entscheiden, in welches Produkt sie das Firmengeld fließen lässt. Die dahinter stehende Frage lautet: Wie lange weicht jemand von einem erfolglosen Kurs nicht ab?

"Die Mehrzahl der Probanden hält an dem eingeschlagenen Weg fest und investiert weiter in das erfolglose Produkt", sagt Soucek. "Von diesem Ziel weichen sie auch dann nicht ab, wenn man ihnen immer wieder das Feedback erteilt, dass ihre Entscheidung falsch war."

Dieses Phänomen wird seit einigen Jahren erforscht. Deutlich wurde dabei bislang, dass Menschen umso unwilliger sind, den gewählten Entscheidungspfad zu verlassen, je größer die gefühlte Nähe zu einem Ziel ist. Und je länger jemand an einer Entscheidung festhält, desto näher glaubt er sich subjektiv dem Ziel - auch wenn das objektiv nicht der Fall ist (Journal of Applied Psychology, Bd. 86, S. 104, 2001). Wer lange auf ein Ziel hinarbeite, so Brandstätter, der glaube irgendwann: Nun muss es aber gleich klappen!

Außerdem gilt: Je mehr Zeit und Geld jemand bereits in eine Entscheidung investiert hat, desto stärker hält er daran fest. Und je größer die Verluste bereits sind, desto risikoreicher agiert ein Mensch - was die Eskalation noch begünstigt.

Mit Vollgas in den Untergang

"Zunehmende Verluste werden weniger gravierend gefunden, weil man sich gewissermaßen schon an das Übel gewöhnt hat", sagt Brandstätter. Dieses Verhalten ließ sich im Labor in fiktiven Entscheidungszwängen genauso beobachten wie in realen Situationen.

Probleme der Rationalisten

Besonders schwer fällt es, selbst gewählte Ziele aufzugeben. Wer hingegen die Zielvorgaben eines Vorgängers übernimmt, tut sich mit einem Kurswechsel leichter.

"Unternehmen wünschen sich Mitarbeiter, die sich mit ihren Projekten identifizieren und diese dann eigenverantwortlich umsetzen", sagt Brandstätter. Doch gerade diese Mitarbeiter binden sich besonders fest an ihre Ziele und halten auch noch daran fest, wenn negativen Folgen absehbar sind."

Deshalb sei es wichtig, Kriterien zu vereinbaren, wann ein Vorhaben abgebrochen werden muss - ob der Hauptverantwortliche das nun wolle oder nicht. Rational denkende Menschen tun sich besonders schwer, Fehlentscheidungen zu revidieren, wie eine jüngst veröffentlichte Studie belegt (Applied Psychology, Bd.57, S.246, 2008).

Kopfmenschen, so die Theorie, sammeln viele vermeintlich gute Gründe für oder gegen eine Entscheidung. Legen sie sich dann fest, halten sie ihre Entscheidung für besonders durchdacht und stellen sie kaum noch in Frage.

Wissenschaftler haben zahlreiche Modelle entworfen, mit denen sie das Phänomen der eskalierenden Zielbindung zu erfassen versuchen. Besonders beliebt ist das sogenannte Flugzeug-Radar-Szenario.

Hier muss ein Proband in die Rolle eines Managers schlüpfen und entscheiden, ob dessen Firma ein Flugzeug entwickeln soll, das von keinem Radar der Welt geortet werden kann. Allerdings hat die Konkurrenz bereits ein solches Flugzeug gebaut. Und diese Maschine ist besser und billiger. Was tun?

"Die soziale Norm gebietet es, das Ziel weiter zu verfolgen, auch wenn es zu Rückschlägen kommt", sagt Brandstätter. Schon ein kleines Kind, das laufen lernt, ermuntere man, wieder aufzustehen, nachdem es gestolpert ist. Und später im Erwachsenenalter erinnert man sich an diese Verhaltensregel.

Die Greifswalder Psychologin Kathrin Gärtner hat Biowissenschaftler interviewt, deren Experimente nicht die gewünschten Resultate erbrachten, sondern trotz zigfacher Wiederholung "hypothesenkonträre".Gärtner stellte fest, dass unerfahrene Wissenschaftler länger an ihren Hypothesen festhalten als ihre erfahrenen Kollegen.

Entscheidend ist zudem der Chef. Fordert er zum Durchhalten auf, machen Jungforscher unverdrossen weiter - auch wenn längst nichts Positives mehr zu erwarten ist. Der Vorgesetzte wiederum wünscht sich ein bestimmtes Ergebnis, weil Negativbefunde nicht publikationswürdig sind. Es sind diese sozialen Faktoren, die dazu beitragen, dass Menschen einem fragwürdig gewordenen Ziel treu bleiben.

"Ein wichtiges Merkmal des Wissenschaftlers, wie er uns typischerweise in den Medien begegnet, ist seine Beharrlichkeit", sagt Gärtner. Was aber, wenn eine Idee falsch ist, und man doch nicht aufhören kann daran zu glauben? Gärtner zitiert Albert Einstein, der in einem Brief an Michele Bresso darauf hinweist, "dass einer, der mehr als ein halbes Jahr in eine Idee verliebt geblieben ist, aus deren Bann nicht mehr zu retten ist, jedenfalls nicht durch andere".

Mit Vollgas in den Untergang

"Es ist schwer bestimmbar, ab wann eine Zielbindung eindeutig fehlerhaft ist", sagt Soucek, schließlich erinnere das Ganze an ein Dilemma. Einerseits ist es risikoreich, ein Ziel zu früh aufzugeben; andererseits ist es genauso riskant, es ohne Rücksicht auf Verluste weiter zu verfolgen. "Dass jemand nicht gleich nach der ersten negativen Rückmeldung seine Entscheidung ändert, darf noch nicht als fehlgeleitetes Commitment interpretiert werden", so Soucek.

Ab welchem Punkt genau es irrational wird, ein Ziel weiter zu verfolgen, können Forscher nicht sagen. In den Szenarien der Psychologen und Ökonomen wird eine Entscheidungsaufgabe häufig nur zwei Mal vorgelegt. Ob das ausreicht, um einen Eskalationseffekt sichtbar zu machen, ist zweifelhaft. Tatsächlich sei fraglich, so Soucek, ob eine Person falsch handle, die trotz einmaligem Negativfeedback an ihrer ursprünglichen Entscheidung festhalte. Schließlich seien ehrgeizige Ziele ohne Rückschläge nicht erreichbar.

"Die Aussagekraft vieler Experimente ist beschränkt, denn es wurde meistens nur untersucht, wie ein Einzelner handelt. In der Realität werden finanzielle Investitionen jedoch in der Gruppe besprochen und entschieden", sagt Brandstätter. Ähnlich sieht das auch der Finanzexperte Martin Weber von der Universität Mannheim: "Im realen Wirtschaftsleben gibt es niemandem, der ohne Absprachen agiert. Die Szenarien entsprechen deshalb nur bedingt der Realität."

Experimente, die den Versuchspersonen einen Rest Hoffnung lassen, mit ihrer anfangs getroffenen Entscheidung doch noch erfolgreich zu sein, sind vielleicht etwas dichter dran an der Wirklichkeit. Manche Forscher erklären sich das krampfhafte Festhalten an Zielen damit, dass Menschen nicht bereit sind, sich als "schlechte Entscheider" wahrzunehmen. Niemand möchte weder vor sich selbst noch vor anderen sein Gesicht verlieren.

Optimisten stürzen schneller ins Verderben

Das würde allerdings bedeuten, dass schlechte Entscheider insgeheim wissen, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, von der sie jedoch aus Imagegründen nicht abweichen. Solange es eine minimale Erfolgschance gibt, lässt sich nach Ansicht des Managementforschers Glen Whyte von der University of Toronto auch anders argumentieren.

Wer an seiner Ausgangsentscheidung unbeirrt festhält, ist von ihr eben überzeugt und glaubt, auf diese Weise sein Ziel erreichen zu können. So kommt es nicht von ungefähr, dass Optimisten besonders gefährdet sind, mit Vollgas in die Sackgasse zu fahren, wie der Psychologe Ásgeir Juliusson von der Universität Göteborg bereits vor zwei Jahren nachweisen konnte.

Im Verlustbereich handeln Optimisten risikoreicher als Pessimisten und beschleunigen so den Untergang eines Projekts (Scandinavian Journal of Psychology, Bd. 47, S. 345, 2006).

Das Risiko des Aufgebens wird seit Jahren erforscht, die Risiken des Weitermachens werden es jedoch nicht. "Dabei belegen unsere Forschungsergebnisse, dass Menschen leiden, wenn sie sich Zielen verschreiben, die sie nicht erreichen können", sagt Veronika Brandstätter. Ihre Befragung von 300 Erwachsenen hat gezeigt, dass sich Menschen schlecht fühlen und oft über körperliche Beschwerden klagen, wenn sie sich an Lebensziele klammern, die sie für unrealistisch halten.

"Das irrationale Festhalten an Zielen wurde bisher vor allem ökonomisch untersucht. Unsere Forschungsergebnisse zeigen aber, dass ein solches Verhalten auch in anderen Sphären zu beobachten ist - etwa im Berufs- oder Privatleben."

Nach Ansicht des Persönlichkeitspsychologen Julius Kuhl von der Universität Osnabrück drehte sich bisher alles um die Frage: Was müssen Menschen tun, um ihre Ziele zu erreichen? Dahinter verbarg sich die quasi-ideologische Annahme, dass Ausdauer etwas Positives und fehlende Ausdauer etwas Negatives ist.

Laut Kuhl tun sich Menschen äußerst schwer, von einem einmal gefassten Vorhaben abzulassen. "Eigenheime werden gebaut, Lebensluxus aufrechterhalten, obwohl klar ist, dass die Finanzierung nicht mehr erbracht werden kann", sagt Kuhl.

Aus dem Alltag ist dieses Problem bekannt. Man weiß zum Beispiel längst, dass man sich verfahren hat, dreht aber nicht um; man spürt, dass man das falsche Studienfach gewählt hat, macht aber weiter; man kann seinen Partner nicht mehr leiden, schwört ihm aber ewige Liebe. Es scheint, als würden sich die meisten Menschen sagen: Der Weg ist das Ziel - auch dann, wenn er rau ist und im Ruin endet.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: