Psychologie:Narzissten lernen Mitgefühl

Die Menschen werden immer selbstbezogener? Mag sein, aber Empathie ist erlernbar. Sogar Narzissten und Psychopathen können sich in Andere hineinversetzen - wenn man es ihnen nahebringt.

Von Werner Bartens

Jeder kennt diese Zeitgenossen: Sie kreisen meistens nur um sich selbst, andere Menschen interessieren sie kaum. Und noch weniger beschäftigt es sie, was andere von ihnen denken. Narzissten haben ein einseitiges Verständnis von sich und der Welt. Was nicht unmittelbar ihr Denken und Fühlen betrifft, ist ihnen gleichgültig, Mitgefühl Fehlanzeige. Umso überraschender sind die Erkenntnisse von britischen Psychologen, die sie im Personality and Social Psychology Bulletin vom heutigen Samstag veröffentlichen (Bd. 40, S. 8, 2014). Demnach können Narzissten durchaus einfühlsam sein und Empathie empfinden - wenn man ihnen ein wenig auf die Sprünge hilft.

Die Forscher um Erica Hepper von der Universität Surrey haben nahezu 300 Freiwillige untersucht, die starke narzisstische Züge aufwiesen, "aber psychologisch gesund waren und häufig sogar sehr erfolgreich", wie die Studienleiterin sagt. Diese Form des subklinischen Narzissmus ist häufig und vieles deutet darauf hin, dass diese Persönlichkeitsstruktur immer öfter vorkommt. Im Gegensatz dazu haben Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung Schwierigkeiten, ihren Alltag zu bewältigen. Sie sind oft unflexibel, leiden unter Trennungen und der Abkehr von Freunden.

Zunächst erfuhren die Narzissten anschaulich vom Ende einer Beziehung. Doch egal, wie dramatisch die Partnerschaft auseinanderging, die Narzissten konnten keinerlei Empathie empfinden. Das änderte sich auch dann nicht, wenn die Verlassenen in eine Depression verfielen und extrem litten.

In einem weiteren Versuch bekamen Frauen ein zehnminütiges Video zu sehen, in dem eine Frau Opfer häuslicher Gewalt wurde. Nachdem die narzisstischen Teilnehmerinnen aufgefordert wurden, "sich vorzustellen, wie sich die misshandelte Frau fühlt", empfanden sie durchaus Mitgefühl. Narzisstinnen, die nicht dazu angeregt wurden, sich in die Perspektive des Opfers zu versetzen, verharrten jedoch weiterhin gleichgültig vor dem Bildschirm.

Die Fähigkeit zum Mitgefühl ist durchaus verbreitet - nur die Bereitschaft dafür nicht

Um ihrer Beobachtung auf den Grund zu gehen, erfassten die britischen Wissenschaftler die Herzfrequenz und andere physiologische Parameter, die Auskunft darüber geben, wie nahe den Probanden das Geschehen ging, das sie beobachteten. Hier bestätigte sich die zuvor gemachte Beobachtung: Unter den Narzissten stieg die Herzfrequenz nicht an, wenn sie miterlebten, wie eine andere Person litt oder in Trauer verfiel. Auch andere Merkmale einer anteilnehmenden Stressreaktion waren bei ihnen nicht zu beobachten. Wer hingegen angeregt wurde, die Position des Opfers einzunehmen, der zeigte auch eine körperliche Reaktion des Mitgefühls.

"Wenn wir Narzissten dazu ermutigen, die Situation aus der Sicht ihrer Kollegen oder Freunde zu betrachten, reagieren sie oft angemessen und sogar sympathisch auf das Leid anderer", sagt Hepper. "Das ist nicht nur schöner für die Menschen in ihrer Umgebung, sondern langfristig auch für ihr eigenes Wohlbefinden und für die Haltbarkeit ihrer Beziehungen." Für die Gesellschaft kann das nur von Vorteil sein, denn obwohl viele Narzissten mit sich zufrieden sind, stiften sie als Kollegen oder im Freundeskreis viel Ärger und Unruhe. Wer unter einer stark ausgeprägten Form des Narzissmus leidet, tendiert zudem eher zu gewalttätigem Verhalten und anderen Delikten.

Erst vor Kurzem haben die niederländischen Neuroforscher Christian Keysers und Valeria Gazzola gezeigt, dass sogar Psychopathen Mitgefühl beigebracht werden kann (Trends in Cognitive Sciences, Bd. 18, S.4, 2014). Die Hirnzentren, in denen Mitgefühl und Mitleid verarbeitet werden, sind bei ihnen kaum aktiv, wenn sie Menschen sehen, denen es schlecht geht. Wurden sie jedoch aufgefordert, empathisch zu sein ("Versuchen Sie, zu fühlen, wie es dem Anderen geht"), zeigten sie nicht nur mehr Einfühlung, sondern die entsprechenden Hirnareale wiesen auch die dafür typischen Erregungsmuster auf.

Empathie als Frage der Motivation

"Die Fähigkeit zum Mitgefühl ist nicht in Stein gemeißelt", sagt Peter Henningsen, Chef der Klinik für Psychosomatik an der Technischen Universität München. "Empathie ist auch abhängig davon, ob die Bereitschaft dafür gegeben ist. Das ist eine Frage der Motivation." Vielleicht ist es für eine Gemeinschaft daher sinnvoll, den Selbstsüchtigen und Dissozialen Mitgefühl nahezubringen.

Berichte vom Stamm der Babemba, der in Sambia heimisch ist, zeigen einen möglichen Weg. Tut einer der Dorfbewohner etwas selbstsüchtig Unrechtes, folgt ein eingeübtes Ritual. Zunächst bilden alle Anderen einen Kreis, in dessen Mitte sich der Übeltäter stellen muss. Im Kreis fassen sich die Babemba an den Schultern - wer sich anfasst, gehört zur Gemeinschaft. Der Übeltäter muss hingegen allein in der Mitte stehen.

Männer fühlen mit den Gerechten mit - Frauen haben auch Mitleid mit den Fieslingen

Man könnte Übles für ihn befürchten. Denn die Kreisformation um einen Einzelnen ist die seit Jahrtausenden bekannte Aufstellung, in der aus der Gemeinschaft Ausgestoßene gesteinigt oder anderweitig gelyncht werden. Nicht so bei den Babemba. Der Einzelne, der einen Fehler gemacht hat, wird nicht bestraft, sondern so lange an seine guten Eigenschaften erinnert, bis er wieder mit angenehmen Gefühlen in die Dorfgemeinschaft zurückkehren kann.

"Du bist ein guter Sohn", "Du bist ein hilfreicher Freund" - solche Sätze bekommt der sündige Nachbar während der Zeremonie zu hören. Gerade in dörflichen Lebensformen, die stark aufeinander angewiesen sind, ist es für alle wichtig, dass die Gruppe zusammenbleibt.

Aus evolutionärer Sicht ist das ein sinnvolles Muster: Wenn es zu den Zeiten unserer Urahnen um das Überleben der Gruppe ging, die genug damit zu tun hatte, Nahrung zu beschaffen und sich gegen Angriffe zu verteidigen, mussten alle an einem Strang ziehen. Wer den Zusammenhalt stört, kann ausgeschlossen werden - oder er wird resozialisiert, was den Vorteil hat, dass die Gruppe nicht bei jedem Verstoß eines Mitglieds kleiner wird.

Wenn es darum geht, Mitgefühl zu zeigen, reagieren Männer und Frauen übrigens unterschiedlich. Männer zeigen fast ausschließlich Empathie für diejenigen, die sich zuvor fair und untadelig verhalten haben, Verräter und unfaire Zeitgenossen dulden sie nicht. Frauen leiden zwar auch stärker mit den Gerechten, aber in erheblichem Maße verspüren sie ebenso Mitgefühl mit den Fieslingen. Das haben Untersuchungen gezeigt, in denen faire und unfaire Teilnehmer eines Spiels hinterher belobigt oder bestraft werden sollten.

Doch zurück zu den Babemba: Kann es das Stammesmitglied ertragen, dass ihm seine guten Eigenschaften zugerufen werden und das Lob annehmen, ist er in doppeltem Sinne wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen: Er gehört wieder dazu, und als erstes Zeichen reiht er sich in den Kreis seiner Mitbewohner ein und übt mit ihnen den Schulterschluss.

Womöglich ist diese Stammessitte auch ein gutes Vorbild für die narzisstischen und dissozialen Rabauken in unseren Breiten. "Wenn Narzissten doch dazu in der Lage sind, Empathie zu empfinden, sollte man entsprechende Angebote planen, um ihnen zu helfen", sagt Erica Hepper. "Das nützt den Narzissten in ihrem Alltag - und ihre Freunde und Kollegen profitieren unmittelbar davon."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: