Psychologie:Im Gleichschritt zum Wir-Gefühl

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Wer gemeinsam singt oder marschiert, ist sich schneller einig. Psychologen untersuchen, wie synchrones Handeln den Menschen zum Herdentier macht.

Nikolas Westerhoff

In der Armee, im Karnevalsverein oder Kirchenchor - Menschen haben eine Vorliebe für synchron ausgeführte Handlungen. Ruderer stimmen Paddelschläge aufeinander ab, Soldaten marschieren im Gleichschritt, Gläubige beten gemeinsam, Fußballfans singen die Nationalhymne.

Marschieren im Gleichschritt - auch hier formt sich aus vielen Körpern einer. (Foto: Foto: Reuters)

Bei all diesen Ritualen formt sich aus vielen Körpern einer. Die ineinander fließenden Bewegungen und Stimmen der Vielen sollen die Illusion einer großen gemeinsamen Figur erzeugen. Im Augenblick des Synchronisierens löst sich die Grenze zwischen Ich und Wir auf. Die Botschaft der konzertiert handelnden Gruppe lautet: Seht her, wir sind eins!

Lange Zeit rätselten Forscher, welchen Sinn es wohl haben mag, sich beim Singen, Musizieren oder Marschieren aufeinander abzustimmen. Nun bieten US-Psychologen eine Lösung an.

Synchrones Handeln steigere das Gruppengefühl und erhöhe die Kooperationsbereitschaft. Tanz- und Singrituale, die sich aus synchron vollzogenen Aktivitäten konstituieren, förderten das prosoziale Verhalten. Das sei ihr evolutionsbiologischer Zweck ( Psychological Science, Bd.20, S.1, 2009). Zugleich aber machen solche Rituale das Kollektiv verführbar.

Um die Auswirkungen synchronen Handelns zu erforschen, verwandelte der Psychologe Scott Wiltermuth von der Stanford University in Kalifornien den Campus in eine Militärakademie und ließ Probanden im Gleichschritt marschieren.

Anschließend traten sie bei einem Spiel um Geld gegeneinander an. Es zeigte sich, dass die zuvor Seite an Seite marschierenden Probanden stärker miteinander kooperierten als jene, die zuvor nur gemeinsam über das Gelände geschlendert war. Die Synchron-Gruppe vertraute sich untereinander stärker und fühlte sich enger zusammengehörig.

In einem weiteren Experiment ließ Wiltermuth die Versuchsgruppe synchron marschieren und singen. Die Kontrollgruppe sollte asynchron laufen und durcheinander singen. Dann traten die Gruppen zu einem Spiel an, in dem sie egoistisch oder altruistisch handeln können. Entweder investieren sie ihr Geld in ein Gruppenprojekt oder stecken es in die eigene Tasche.

Wer nur den eigenen Gewinn im Blick hat, verhält sich wie ein Trittbrettfahrer: Er handelt egoistisch, spekuliert aber auf die Kooperation der Mitspieler. Solche ausbeuterischen Strategien traten seltener in der Synchron- als in der Asynchron-Gruppe auf.

Bei schwerer körperlicher Arbeit, auf Technopartys oder bei militärischen Übungen synchronisieren Menschen ihre Bewegungen. Auf diese Weise rhythmisieren sie ihr Tun und zergliedern es in immer wiederkehrende gleichförmige Handlungseinheiten.

So gelingt ihnen nach Ansicht von Philosophen zweierlei: Zum einen geht ihr Ich im Wir auf; zum andern dehnen sie den Raum des Gegenwärtigen endlos aus. Der Mensch, der sich darauf beschränkt, ein und dieselbe Handlung fortwährend auszuführen, kennt nur noch die Jetzt-Zeit.

"Je erregbarer und ursprünglicher ein Mensch ist", schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche im Jahr 1875, "umso mehr wirkt der Rhythmus auf ihn - wie ein Zwang zum Nachbilden des Rhythmus, und erzeugt jenes blinde, alles Urtheil vorhergängige Einstimmen; es ist ein Zwang, der gewöhnlich mit Lust verknüpft ist, aber er kann so plötzlich an den Seelen reissen und sie überwältigen, dass er mehr noch einem schmerzhaften Krampfe gleichkommt."

Techniken für Schamanen wie für Diktatoren

Wie der Historiker William McNeill von der University of Chicago in seinem Buch "Dance and Drill in Human History" darlegt, erleben Menschen synchrone rituelle Handlungen als beglückend. Synchronbewegungen stärkten die Gemeinschaft, so McNeill. Das gelte für den Stechschritt der Nazis ebenso wie für kollektive Trancetänze von Schamanen.

Es sei kein Wunder, sagt der Psychologe Jonathan Haidt von der University of Virginia, dass Diktatoren ihre Untertanen im Gleichschritt marschieren und singen ließen. Dadurch erkauften sie sich die bedingungslose Hingabe der Masse. Synchronizität führt zu einer kollektiven inneren Aufwallung, befand bereits der Soziologe Émile Durkheim zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Und diese Aufwallung lässt sich nutzbar machen, im Guten wie im Schlechten.

Wie leicht es möglich ist, ein einheitliches Gruppengefühl zu wecken, konnte der Sozialpsychologe Charles Seger von der Indiana University kürzlich nachweisen. Er fragte Probanden, wie sie sich im Augenblick als Amerikaner fühlten. Zornig oder schuldig, glücklich oder verstört, zuversichtlich oder ängstlich.

Dann spielte er ihnen entweder die Nationalhymne der USA vor oder zeigte ihnen Fotos nationaler Symbole. Sowohl durch das bloße Vorspielen der Hymne als auch durch das Zeigen patriotischer Embleme glichen sich die zuvor sehr unterschiedlichen Gemütslagen der Versuchspersonen einander an.

Es bildete sich ein einheitliches Gruppen-Emotionsprofil heraus. Gelingt es, das Wir-Gefühl einer Gruppe zu steigern, so eint sie sich auf ein kollektiv gültiges Muster des Fühlens. So wie Bewegungen können auch Gefühle synchronisiert werden - die zentrale Erkenntnis Segers.

Das Synchronisieren ist ein Akt wechselseitigen Nachahmens. Daran sind sogenannte Spiegelneurone beteiligt. Diese im Sprachzentrum lokalisierten Nervenzellen sind aktiv, wenn Fremd- und Eigenhandlung als identisch erkannt werden. Das "zwanghafte Nachbilden", wie Nietzsche es despektierlich nannte, schweißt eine Gruppe nicht bloß zusammen. Es stellt auch die Bedingung für gegenseitiges Verstehen und Einfühlen dar.

Den Spiegelneuronen kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu, wie etwa die Befunde des Hirnforschers Christian Keysers von der Universität Groningen nahelegen. Laut Jonathan Haidt ist das menschliche Gehirn darauf abgestellt, andere Menschen nachahmen zu wollen. Und so wie Menschen als Gruppenmitglieder ihre motorischen Aktivitäten einander angleichen, so "synchronisieren" sie auch ihre Meinungen.

Das Gehirn belohnt konformes Verhalten mit Glückshormonen

Wie zahlreiche Studien seit den 1950er-Jahren belegen, neigen Menschen dazu, sich in Gruppen meinungskonform zu verhalten. Das haben die Experimente des Psychologen Salomon Ash und ihre zahlreichen Replikationen gezeigt. Selbst wenn es um etwas Belangloses geht - etwa um die Frage, ob eine Linie X länger als eine Linie Y ist - streben Menschen einen Konsens an.

Das Gehirn belohne nämlich Konformität, argumentierte der Neuroforscher Vasily Klucharev von der Radboud University in Nijmegen jüngst im Fachblatt Neuron. Ordnen sich Menschen der Mehrheitsposition unter, produziert ihr Gehirn vermehrt das Glückshormon Dopamin. Konformität, das suggerieren diese Studien, hat eine neurobiologische Basis. Deshalb tendierten Menschen dazu, ihr Selbst in der Gruppe aufzulösen.

In dieser Absolutheit lässt sich diese Behauptung jedoch nicht halten. Es liegen zahlreiche Befunde vor, die für das Gegenteil sprechen. In manchen Situationen streben Menschen danach, sich von der Gruppe abzusetzen und sich unterscheidbar zu machen. Das zeigen beispielsweise die Ergebnisse von Hans-Peter Erb. "Wir wollen weder in der Masse untergehen noch voll in ihr aufgehen", sagt der Sozialpsychologe von der Universität der Bundeswehr in Hamburg.

Soll man nun junge Menschen im Gleichtakt marschieren lassen, damit sie sich in ökonomischen oder ökologischen Verteilungskämpfen kooperativ verhalten? Nein, wie kooperativ ein Mensch handelt, lässt sich nicht daran ablesen, ob er die Mitglieder seiner eigenen Gruppe protegiert. Entscheidend ist, wie er sich gegenüber Fremdgruppen verhält. Es ist möglich, nach innen kooperativ zu handeln und nach außen egoistisch.

Ob Wiltermuths Probanden auch mit den Mitgliedern fremder Gruppen stärker kooperiert hätten, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass Menschen schon als Kind lernen, in den Kategorien "Fremd" und "Eigen" zu denken.

Schon Fünfjährige denken besser über die eigene Gruppe als über Fremde. Gruppengefühl ist etwas, was sich automatisch ergibt. Die Kunst besteht darin, die Verständigung und den Kooperationswillen zwischen verschiedenen Gruppen zu steigern. Synchron getanzte Figuren helfen da nicht weiter.

© SZ vom 07.02.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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