Psychologie:Emotionale Tonlage

Wer die Gefühle eines Menschen verstehen will, sollte dessen Gesicht betrachten? Besser wäre es, die Augen zu schließen und der Stimme zu lauschen.

Von Sebastian Herrmann

Was geht nur in den Menschen vor? Diese Frage drängt sich auf, wenn ganze Gesellschaften dem kollektiven Wahnsinn verfallen; und sie stellt sich konkret in alltäglichen Begegnungen. Was empfindet der Mensch, der einem gegenübersitzt, in welcher Stimmung ist er, glücklich oder traurig, gelangweilt oder interessiert? Der beste Weg zu brauchbaren Antworten auf Fragen wie diese führt über eine verblüffende Technik: Um die inneren Zustände der Mitmenschen zu entschlüsseln, so empfehlen Psychologen, sollte man die Augen schließen und einfach zuhören. Der Gesprächsinhalt spielt kaum eine Rolle, viel wichtiger ist hingegen, wie etwas gesagt wird. Das berichtet Michael Kraus von der Yale University im Fachmagazin American Psychologist. Und mehr noch: Die Stimme sagt sogar mehr aus als die Mimik.

Menschen achten auf zahlreiche Signale, wenn sie andere taxieren: auf den Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, Bewegungen und natürlich auf Stimme sowie Inhalt einer Aussage. Wer seine Mitmenschen einschätzen kann, navigiert ohne ständige Havarien durch das soziale Durcheinander. Sogenannte empathische Genauigkeit - das Vermögen, die Stimmungen anderer korrekt zu erfassen - gilt unter anderem als Voraussetzung für beruflichen Erfolg oder dauerhafte romantische Beziehungen. Ein Merkmal zahlreicher psychischer Störungen, so schreibt Kraus in seiner Studie, sei hingegen das Unvermögen, die Emotionen anderer zu begreifen.

Schon sinnloses Gebrabbel kann die Stimmung eines Menschen entlarven

In Experimenten mit etwa 1800 Teilnehmern zeigt er nun, dass die Aussagekraft der Stimme allen anderen Indizien überlegen ist. Seine Probanden schätzten die Zustände anderer am genauesten ein, wenn sie nur zuhörten. Sahen sie zudem noch das Gesicht oder betrachteten sie nur das Antlitz, dann ließen sie sich mit höherer Wahrscheinlichkeit zu einem Fehlurteil verleiten. "Zuhören ist wichtig", sagt Kraus, ein Allgemeinplatz, der in diesem Zusammenhang neue Bedeutung erlangt.

Andere Studien unterstützen das Ergebnis. So haben Wissenschaftler beobachtet, dass inhaltsleeres Gebrabbel bereits effektiv emotionale Zustände kommuniziert. Klar, ein Jaulen oder ein Jauchzer vermittelt die Botschaft, ohne dass es weiterer Erklärungen bedarf. Doch das gilt auch für weniger offensichtliche akustische Signale: In einem Experiment sagten US-Amerikaner immer wieder die gleichen sieben Begriffe - etwa "yellow" oder "thought". Einer Gruppe von Zuhörern reichte das, um zuverlässig den sozialen Status der Sprechenden einzuschätzen.

Es sei einfach sehr schwer, die inneren Zustände so zu verbergen, dass sie sich nicht in der Färbung der Stimme niederschlagen, argumentiert Kraus. Zugleich seien wir alle gut trainiert darin, unsere Gesichtsausdrücke einigermaßen zu kontrollieren. Und dass eine Kombination beider Informationen - Stimme und Mimik - die korrekte Einschätzung anderer nicht erhöht, habe einen einfachen Grund: Zwei kognitiv anspruchsvolle Aufgaben auf einmal überfordern die meisten Menschen.

Entpuppt sich der Klang der Stimme auch in weiteren Studien als überlegenes Signal, hätte dies einige Folgen. Bislang setzen zum Beispiel Tests der sogenannten emotionalen Intelligenz stark auf die Bewertung von Gesichtsausdrücken. Auch in klinischen Tests spielen optische Signale häufig eine wesentliche Rolle. Und wer zum Beispiel die Funktion zur Gesichtserkennung im neuen iPhone als Bedrohung der Privatsphäre begreift, sollte bedenken: Die Stimme verrät womöglich noch viel mehr. Und dass Handys sowie die diversen Apps darauf ihre Nutzer belauschen können, ist seit vielen Jahren normal.

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