Allabendlich das gleiche Ritual: Journalist Paul und Texter Stefan, beide 27, sitzen beim Feierabend-Bier und leiern ihre Phrasen herunter: So kann es nicht weitergehen, irgendwas muss sich ändern! Vielleicht sollten wir noch mal studieren? Oder uns neu verlieben? Und nicht zum erstenmal stellt Paul die Frage: Wie wäre es, wenn wir gemeinsam aussteigen und um die Welt segeln?
So wie die beiden von Veränderung schwadronieren, tun das Millionen Menschen in aller Welt. Sie glauben, sich selbst und ihr Leben ändern zu können und träumen vom Neuanfang. Irgendwann, irgendwie, irgendwo. Es ist kein Wunder, dass Fernsehsendungen wie "Goodbye Deutschland" oder "Mein neues Leben XXL" beliebt sind, schließlich spielt einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2007 zufolge jeder Fünfte in Deutschland mit dem Gedanken, einen Neustart hinzulegen. Vor allem junge Menschen unter 30 Jahren könnten sich gut vorstellen, nach Australien, Kanada oder Amerika umzusiedeln.
Keine Lust auf Neues
Studien der Persönlichkeitsforscher Paul Costa und Robert McCrae belegen: Bis Anfang zwanzig wächst die Bereitschaft von Menschen, sich neuen Erfahrungen zu öffnen. Danach nimmt die Faszination des Neuen jedoch kontinuierlich ab. Mit zunehmendem Alter werden Menschen immer resistenter gegen Veränderungen. Unabhängig davon, ob ein Mensch in China oder im kapitalistischen Amerika lebt, ob in Deutschland, Kroatien oder Südkorea: Die Lust auf Neues verliert sich mit den Lebensjahren. Wer also neu anfangen möchte, sollte das lieber heute als morgen tun. Morgen wird er es womöglich nicht mehr so stark wollen wie heute.
Die Tatsache, dass sich überall auf der Welt und in allen Kulturen derselbe altersbedingte Persönlichkeitswandel nachweisen lässt, spricht nach Auffassung von Biopsychologen für eine genetische Basis. Denkbar ist aber auch, dass sich Menschen, egal wo, mit den gleichen biografischen Anforderungen konfrontiert sehen, wie der Persönlichkeitspsychologe Rainer Riemann von der Universität Bielefeld vermutet. So muss ein junger Mensch hinaus in die Welt ziehen und einen Partner finden. Da ist es hilfreich, sich Neuem nicht zu verschließen. Erwachsene hingegen müssen für ihre Kinder und Enkelkinder sorgen. Da ist es sinnvoller, verlässlich, pünktlich und verantwortungsbewusst zu sein.
Nicht offen für Neues
Hat sich erst einmal alles eingespielt, sind Lebenspartner und Beruf gefunden, verschließen sich Menschen zunehmend dem Neuen. Die Psychologin Susan Branje von der Universität Utrecht weist darauf hin, dass bereits vom 30. Lebensjahr an die Offenheit für Neues ebenso sinkt wie der Wunsch nach Geselligkeit (European Journal of Personality, Bd. 21, S. 45, 2007). Das steht in einem merkwürdigen Kontrast zu dem gerade von Vertretern der Ü-30-Generation oft beschworenen Wunsch nach grundlegenden Veränderungen. Offenbar kollidiert der theoretische Wunsch nach Neuem mit einer realen Furcht vor Veränderung. Auch wer seinen Partner in der zweiten Lebenshälfte noch wechselt, landet danach oft bei einem ähnlichen Menschen.
"Mit zunehmendem Alter werden Menschen verlässlicher und verträglicher, sagt der Persönlichkeitspsychologe Peter Borkenau von der Universität Halle. Zugleich sinkt ihre Offenheit für Neues", so Borkenau. Das 30. Lebensjahr ist jedoch keine magische Wendemarke. Anders als die Pioniere der Persönlichkeitsforschung Paul Costa und Robert McCrae immer wieder behaupten, geht es um eine langfristige Entwicklung, die bereits um das 20. Lebensjahr herum einsetzt. Das belegt eine sehr umfangreiche internetbasierte Persönlichkeitsstudie, an der vor fünf Jahren mehr als 130 000 Menschen teilgenommen haben. In den Persönlichkeitsmerkmalen Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, emotionale Stabilität, Offenheit für neue Erfahrungen und Extraversion lassen sich altersbedingte Veränderungen beobachten. Demnach vollzieht sich ein klarer Wandel im Laufe des Lebens, aber eben schleichend.
Die Daten zeigen, dass es Geschlechterunterschiede gibt. "Frauen werden mit den Jahren emotional stabiler, ihre Neurotizismus-Werte sinken. Das gilt für Männer nicht", sagt Borkenau. Umgekehrt sind es vor allem Frauen, die mit den Jahren introvertierter werden, eine Entwicklung, die bei Männern nicht feststellbar ist. Die Offenheit für neue Erfahrungen nimmt hingegen bei beiden Geschlechtern ab - und zwar kontinuierlich vom 20. bis zum 60. Lebensjahr.
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Unterschiede im Sandkasten
Allerdings unterscheidet sich das absolute Niveau: Wer als Kind weniger offen für neue Erfahrungen war als Gleichaltrige, der hängt auch im Erwachsenenalter stärker an Gewohntem. Der Offenere ist auch Jahre später noch der im Vergleich Offenere, zeigte der Psychologe Richard Robins von der University of California in Längsschnittstudien. Erstaunlicherweise sind bereits Kinder im Sandkasten unterschiedlich empfänglich für Neues. Manche wollen immer auf den einen Spielplatz, andere langweilt es, zwei Tage hintereinander mit derselben Schaufel spielen zu müssen.
Die Psychologin Kate McLean von der University of Toronto hat vor kurzem 134 Menschen unterschiedlichen Alters darum gebeten, ihre Lebensgeschichten zu schildern (Developmental Psychology, Bd 44, S. 254. 2008). Sie konnte zeigen, dass Menschen jedes Alters die eigene Biografie vor allem als Abfolge von Wandlungen rekonstruieren. Erinnerungswürdig bleibt fast immer das Unerwartete und Neue - ein Todesfall, ein unverhoffter Karrieresprung oder ein Wohnortwechsel. Interessant dabei ist, dass ältere Menschen solchen äußeren Ereignissen eine andere Bedeutung zuschreiben als jüngere. Ihre Erzählbotschaft: Der äußere Wandel hat nicht zu einem inneren Wandel geführt. Die Botschaft der Jüngeren lautet hingegen: Durch äußere biografische Zäsuren habe ich mich psychisch verändert. Junge Menschen charakterisieren ihr eigenes Ich als offene, wandlungsfähige Instanz. Ältere beschreiben ihr Selbst als etwas Unbewegliches, das sich trotz aller Irrungen des Lebens kaum verändert hat.
Tatsächlich wird die Psyche eines Menschen mit zunehmendem Alter stabiler. Für das mittlere Erwachsenenalter gilt: Die Persönlichkeit gleicht einem stehenden Gewässer. Zu diesem Ergebnis gelangte der Psychologe Brent Roberts von der University of Illinois, nachdem er 152 Persönlichkeitsstudien ausgewertet hatte. Solange sich im Leben eines Menschen nichts Außergewöhnliches ereignet, so Roberts, hat er sich spätestens mit 40 eine Lebensweise zurechtgelegt, die seinem Charakter entspricht. Das Neue ist dann nicht mehr sonderlich erwünscht. Es ähnelt eher einem unerwünschten Gast. Und das bleibt so.
Deutliche Lustgefühle
"Wer als Vierzigjähriger besonders gewissenhaft ist, ist das auch als Sechzigjähriger", sagt Borkenau. Gleiches gilt für die Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen. "Auch dieses Merkmal wird immer stabiler", so Borkenau. "Allerdings nimmt die Stabilität ab dem 60. Lebensjahr wieder ab. Es scheint, als würden Menschen sich wieder ändern können, wenn sie ihre biografischen Pflichten erfüllt - also das Arbeitsleben absolviert und die Kinder großgezogen haben.
Dennoch bleibt auch dann die Macht des Gewohnten stark. "Das Gehirn trachtet immer danach, Dinge zu automatisieren, Gewohnheiten auszubilden, und es besetzt dies mit deutlichen Lustgefühlen. Am Bewährten festzuhalten vermittelt das Gefühl der Sicherheit, Geborgenheit und Kompetenz und reduziert die Furcht vor der Zukunft und dem Versagen", schreibt der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen in seinem 2007 erschienen Buch "Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern".
Wie schwer es ist, sich zu ändern, haben die Psychologen Janet Polivy und Peter Herman von der University of Toronto in zahlreichen Studien erkundet. Gerade demjenigen, der große Veränderungen anstrebt, so deren Erkennnis, misslingen häufig die kleinsten Korrekturen. Ebenso schwer wie ein kompletter Umbruch fallen moderate Änderungen, also fünf Kilo abzunehmen oder zehn Zigaretten weniger am Tag zu rauchen.
Selbstgebastelte Wunschkaskaden
Je stärker Menschen davon überzeugt sind, das Ruder problemlos herumreißen zu können, desto weniger gut gelingt es ihnen. Metaphorisch formuliert: Wer sicher ist, irgendwann ein neues Ufer zu erreichen, der landet mit großer Wahrscheinlichkeit am alten. So ist es denn auch wenig verwunderlich, dass viele Raucher, die von sich sagen, sofort aufhören zu können, auch zwanzig Jahre später noch rauchen. Polivy und Herman sprechen vom "False-hope-syndrom" (Falsche-Hoffnung-Syndrom).
Das Hauptproblem sind überzogene Erwartungen. Viele Menschen glauben beispielsweise: Wenn es mir nur gelingt, schlank zu werden, dann werde ich endlich einen Traumpartner finden, eine glückliche Familie gründen und das lang ersehnte Häuschen am Atlantik bauen. Solche selbstgebastelten Wunschkaskaden sind utopisch. Sie erzeugen den Eindruck als würde eine positive Veränderung - etwa Abnehmen - automatisch viele andere erwünschte Veränderungen nach sich ziehen.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Es ist schwer, dauerhaft abzunehmen. Einen Partner fürs Leben zu finden, hat mit Glück zu tun. Und es sind viel Arbeit und Geld nötig, um sich das Eigenheim zu bauen. Das Wichtigste aber ist: Erfolg in einem der Punkte hat keinen Einfluss darauf, ob weitere Sehnsüchte erfüllt werden. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister von der Florida State University hat festgestellt: Das False-hope-syndrom verführt Menschen dazu, alle möglichen Dinge auf einmal ändern zu wollen. So will der Raucher und Sportmuffel plötzlich beides, nämlich Nicht-Raucher und Marathon-Läufer sein. Und weil er sich zu viel vornimmt, klappt nichts.