Manche Ideen sind unsterblich. So zum Beispiel die populäre Vorstellung, wonach nur der Glaube an einen Gott den Menschen zu gutem Handeln befähige und Atheisten ohne Moral seien. Der chinesische Philosoph Mozi räsonierte schon vor etwa 2500 Jahren darüber, dass der Glaube an Geister nötig sei, um das Böse im Menschen im Zaum zu halten. Der Grieche Platon verwies auf göttliche Instanzen als Quelle der Moral, und auch der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski führte in seinen Texte ähnliche Gedanken aus. Die Vorstellung vom gewissenlosen Ungläubigen lebt bis heute, und offenbar neigen sogar Atheisten selbst der Meinung zu, dass fehlender Glaube die dunklen Seiten des Menschen an die Oberfläche locke. Das berichten Psychologen um Will Gervais von der University of Kentucky im Fachmagazin Nature Human Behaviour, die für ihre Studie fast 3500 Probanden aus 13 Ländern untersucht haben.
Sogar in säkularen Gesellschaften lebt das Vorurteil, dass der Glaube an Gott Ursprung von Moral sei
Die Wissenschaftler legten den Teilnehmern Schilderungen eines grausigen Mordes vor. Dann fragten sie, was wahrscheinlicher sei: Dass der Täter ein Lehrer oder dass er ein Lehrer und Atheist sei. Die Fragestellung ist eine Variation eines Versuches der Verhaltensforscher Amos Tversky und Daniel Kahneman: Eine Antwort ist logisch korrekt, die andere falsch, fühlt sich jedoch intuitiv richtig an. Im aktuellen Fall ist es wahrscheinlicher, dass der Täter Lehrer ist; die Zusatzeigenschaft "Atheist" schränkt die Zahl der möglichen Verdächtigen nämlich ein, schließlich sind in der Antwort "Lehrer" auch alle Pädagogen enthalten, die an keinen Gott glauben. Die weniger wahrscheinliche Variante (Lehrer und Atheist), fühlt sich aber eher zutreffend an, weil sie den Täter genauer beschreibt und dabei auf das verbreitete Stereotyp zurückgreift, wonach Atheisten leichter zu Bösem in der Lage sind als Gläubige.
In allen 13 Ländern, in denen die Wissenschaftler Probanden die Frage vorlegten, gab die Mehrheit eine Antwort, die sich als Beleg für ein grundsätzliches moralisches Misstrauen an Atheisten interpretieren lässt. Sogar in säkular geprägten Ländern wie Australien, China, Tschechien, den Niederlanden oder Neuseeland trauten die Probaden Atheisten eher Untaten zu. Lediglich in Finnland stellten die Forscher kaum einen Unterschied fest. Um auszuschließen, dass das Stereotyp vom amoralischen Atheisten nur bei Kapitalverbrechen zutrifft, wiederholten die Forscher den Versuch mit Schilderungen geringerer Verfehlungen - zum Beispiel mit der Geschichte eines Zechprellers oder eines Priesters, der sich an Kindern vergeht. Auch in diesen Varianten offenbarten sich Vorurteile gegen Atheisten. Einen Priester, der des Missbrauchs schuldig ist, betrachteten die Probanden etwa als ungläubigen Geistlichen.
Die Vorstellung vom unmoralischen Atheisten speise sich, so Adam Cohen und Jordan Moon von der Arizona State University in einem Begleitkommentar, aus der Idee, dass Ungläubige keine göttliche Strafe für verwerfliches Handeln fürchten müssten. Das klingt einleuchtend, steht jedoch in starkem Kontrast zu empirischen Funden über den Ursprung moralischer Empfindungen. So haben laut Studien bereits sechs bis neun Monate alte Babys ein Gespür dafür, ob sie es mit Erwachsenen zu tun haben, die anderen helfen und ethisch handeln. Zudem weisen die Forscher um Gervais darauf hin, dass säkular geprägte Staaten meist höchst kooperative und moralische Gesellschaften seien. Religionen seien hingegen entstanden, weil sie Kooperation und Vertrauen innerhalb einer Gruppe beförderten - zu dem Preis, dass Andersgläubige außerhalb dieser Gemeinschaft mit besonderem Argwohn betrachtet wurden. Daraus speist sich auch die Vorstellung vom Atheisten als Unmenschen.