Psychologie:Der ganz alltägliche Wahn

Was ist normal, wo beginnt die psychische Störung? Schon eine Simulation der Londoner U-Bahn löst bei vielen Menschen paranoide Gedanken aus, berichten britische Forscher.

Joachim Marschall

Manche Menschen glauben, sie würden rund um die Uhr ausspioniert, jemand wolle sie vergiften oder eine Verschwörung gegen sie anzetteln. Wer unter Verfolgungswahn leidet, ist davon überzeugt, dass Mitmenschen nur Böses wollen.

Psychologie: Auch virtuelle Mitfahrer können nervös machen.

Auch virtuelle Mitfahrer können nervös machen.

(Foto: Grafik: Department of Computer Sciences, University College London)

Eine aktuelle Studie zeigt, dass nicht nur psychisch Kranke auf paranoide Ideen kommen - ein bisschen Wahn ist offenbar ganz normal. Ein Team um den Londoner Psychiater Daniel Freeman schickte 200 gesunde Probanden auf eine virtuelle U-Bahn-Fahrt.

Vier Minuten lang trugen die Versuchspersonen eine Spezialbrille vor den Augen, die sie komplett in die künstliche Umgebung eintauchen ließ. Sie fanden sich in einem Wagen der Londoner "Tube", in dem andere Fahrgäste stumm herumstanden und umherschauten.

Die virtuellen Mitfahrer waren so programmiert, dass sie die meiste Zeit über einen neutralen Gesichtsausdruck hatten. Wenn man sie aber nur lange genug anschaute, hoben sie den Kopf. Manchmal lächelten sie. Diese an sich wenig bedrohliche Umgebung löste bei 40 Prozent der Probanden paranoide Gedanken aus, sie misstrauten ihren virtuellen Mitfahrern.

"Da war ein Mann, der mich die ganze Zeit anstarrte"

Teilnehmer des Tests sagten später Dinge wie: "Ein Typ war irgendwie zwielichtig. Als ob er bald etwas tun wollte - jemanden angreifen, eine Bombe legen oder etwas Böses sagen."

Oder: "Da war ein Mann, der mich die ganze Zeit anstarrte. Ich glaube, er wollte Streit mit mir anfangen." Die übrigen Probanden fanden die Fahrt hingegen unspektakulär oder freuten sich sogar darüber, dass man sie in der U-Bahn angelächelt hatte, berichten die Forscher im British Journal of Psychiatry (Bd.192, S.258, 2008).

"Das zeigt: Wenn man verschiedene Leute exakt dieselbe soziale Situation erleben lässt, werden es manche positiv, manche neutral erleben", sagt der Studienleiter Daniel Freeman. "Und manche kommen eben auf paranoide Gedanken."

Der ganz alltägliche Wahn

Diese leicht wahnhaften Vorstellungen seien unbedenklich und grundsätzlich nicht verwandt mit schweren Denkstörungen, die beispielsweise bei Schizophrenen auftreten. Das sei auch daran erkennbar, dass die Probanden in der Studie eher misstrauisch wurden, wenn sie generell ängstlicher waren, sich viele Sorgen machten und ein negatives Bild von sich und anderen hatten - dies seien auch bekannte Risikofaktoren für eine Schizophrenie-Erkrankung.

Dass es beim paranoiden Erleben ein Kontinuum von Normalität bis hin zur psychischen Störung gibt, bestätigt auch der Münchner Schizophrenie-Experte Stefan Leucht. "Sogar Halluzinationen treten bei einem kleinen Teil der Normalbevölkerung auf.

Genauso sind ab und zu auftretende paranoide Gedanken an sich noch nichts krankhaftes. Die Studie ist auch nicht als diagnostischer Test zu verstehen." Bislang sei man allerdings bei der Untersuchung dieses Phänomens auf Fragebögen angewiesen gewesen, bei denen es schwierig sei, zwischen der tatsächlichen Umwelt von Probanden und ihrer Wahrnehmung derselben zu unterscheiden. "Neu ist, dass nun eine Methode entwickelt wurde, um paranoides Erleben im Labor zu untersuchen", sagt Leucht.

In Zukunft könnte das Experiment mit bildgebenden Verfahren kombiniert werden, um die Vorgänge bei wahnhaften Gedanken genauer zu untersuchen. Auch in der Therapie von schizophrenen Patienten sieht Freeman einen möglichen Einsatz der Technik.

Der Forscher hofft aber auch, mehr Akzeptanz für wahnhaftes Denken zu wecken: "Über Paranoia wird wenig geredet, weil viele Angst davor haben, als verrückt abgestempelt zu werden. Aber es ist eine sehr menschliche Erfahrung, die bei dem Versuch entsteht, soziale Ereignisse zu deuten - wie den Gesichtsausdruck eines anderen."

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