Psychische Leiden:Wohin mit der Seelennot?

Die Psychiatrie bekommt zunehmend Konkurrenz durch die Psychosomatik. Schon fürchtet sie eine "Zwei-Klassen-Psychiatrie": hier die Querulanten, dort die gebildeten Kranken.

Werner Bartens

Wo und vor allem von wem ein Patient mit seelischen Erkrankungen behandelt wird, kann hin und wieder eine Frage der Laufrichtung sein. "Manchmal ist es in Deutschland davon abhängig, ob man auf der rechten oder der linken Straßenseite geht, ob man in die Psychiatrie oder in die Psychosomatik kommt", sagt Michael Wirsching, Chefarzt der Psychosomatik am Universitätsklinikum Freiburg, wenn er auf die ärztliche Konkurrenz um die Verzweifelten, Verzagten und Verwirrten angesprochen wird. Der Zufall oder die Neigung des Hausarztes entscheiden häufig darüber, ob ein Patient mit mittlerer Depression oder Angststörung eher zu den Psychiatern oder den Psychosomatikern kommt.

Psychiatrische Klinik, ddp

Szenen wie aus "Einer flog über das Kuckucksnest": Psychiatrischen Kliniken haftet noch immer der Ruf an, Verwahrstation für schwer kranke und aggressive Menschen zu sein.

(Foto: Foto: ddp)

In der Psychiatrie, die auf eine jahrhundertelange Tradition inklusive der Irrenanstalten und Tollhäuser zurückblicken kann, fürchtet man neuerdings aber offenbar die junge Konkurrenz der Psychosomatik, die erst 1992 als eigene Fachrichtung "Psychotherapeutische Medizin" (2003 umbenannt in "Psychosomatische Medizin und Psychotherapie") etabliert wurde.

Das neue Fach, das nur sechs Prozent der Krankenhausfallzahlen der Psychiatrie erreicht, führe zu einer "Zwei-Klassen-Psychiatrie durch die Hintertür", warnt der Sozialpsychiater Asmus Finzen. "Es sind die Gebildeteren, die verbal und sozial Kompetenteren, die Durchsetzungsfähigen, die Jüngeren, die mit einer stützenden Familie im Hintergrund, die die Kliniken für Psychosomatische Medizin aufsuchen."

Um die "Störenden" und Aggressiven, die Behandlungsunwilligen und Zwangseingewiesenen müsse sich hingegen die Psychiatrie kümmern, so Finzen im Februarheft von Psychologie Heute (Bd.2, S. 42, 2010). Der Reformpsychiater, der bis zu seiner Emeritierung die Sozialpsychiatrie an der Universitätsklinik Basel geleitet hat, spricht sogar von einer "vergifteten Konkurrenz" der Fächer.

Aus Sicht von Peter Henningsen, Chefarzt der Psychosomatik an der Technischen Universität München, bekämpfe Finzen den "falschen Feind". Schließlich beschreibt Finzen selbst die Entwicklung, dass sich das Fachgebiet - ausgehend von der amerikanischen Psychiatrie - immer stärker biologisch orientiert und Ängste, Zwänge, Niedergeschlagenheit und Psychosen einseitig als Ungleichgewicht der Moleküle und Hirnströme verstanden habe. "Die Ärzte sahen sich zu Medikamentenverschreibern abgewertet, zu bloßen pill pushers; und die Öffentlichkeit sah das genauso", konstatiert Finzen in seinem Text.

Womöglich ist es ein Wahrnehmungswandel von Laien wie Ärzten, der das Image beider "Psycho-Fächer" verändert hat: Auf der einen Seite wären dort die mechanistisch denkenden Psychiater, die - in starker Abhängigkeit von der Pharmaindustrie - ihren schwerkranken oder aggressiven Patienten Tabletten rüberschieben. Man fühlt sich unweigerlich an Szenen aus "Einer flog übers Kuckucksnest" erinnert.

Die Psychosomatiker diskutieren - wenn man diesen Klischees folgt - hingegen mit ihren kultivierten Patienten über gelegentliche depressive Verstimmungen und andere Luxusprobleme oder kurieren die leichte Sozialphobie ihrer Patienten, indem sie mit ihnen Buchhandlungen und Wochenmärkte besuchen - "Psychiatrie light".

Im Dschungel der Angebote

Beide Stereotype sind so falsch wie veraltet, und deshalb betont Peter Henningsen in derselben Ausgabe von Psychologie Heute, dass Psychiatrie und Psychosomatik voneinander lernen könnten und sollten, "wenn es um die komplexe und sowohl theoretisch wie praktisch nicht leicht zu fassende Wechselwirkung von biologisch-mechanistischen und interpersonell-intentionalen, also psychosozialen Faktoren" in der Entstehung und Therapie psychischer Störungen geht.

Man dürfe aber auch nicht verschweigen, so Henningsen, dass die deutsche Psychiatrie lange skeptisch in Bezug auf die Psychotherapie gewesen sei. Die emigrierten jüdischen Psychotherapeuten seien in den USA in die Psychiatrie integriert worden, weswegen die Psychosomatik dort nur eine Unterdisziplin der Psychiatrie sei.

Von Horst-Eberhard Richter ist überliefert, dass er in der Psychiatrie geblieben und sich nicht für die Gründung einer eigenständigen Psychosomatik eingesetzt hätte, wären die deutschen Psychiater nicht so psychotherapiefeindlich gewesen. Noch heute werde die Psychotherapie Henningsen zufolge in der Psychiatrie oft "nach biomedizinischem Modell eingesetzt wie ein vom Stationspsychologen verabreichtes zusätzliches Medikament, weit entfernt von einer umfassend reflektierten Durchdringung des Interaktionsgeschehens zwischen Patient und Behandlerteam".

Für den Patienten macht es das Streitgespräch der beiden Professoren nicht leichter, sich im Dschungel der Angebote zurechtzufinden. Ehemalige Kurkliniken, die sich mangels Auslastung flugs mit dem Etikett Psychosomatik schmücken, obwohl sie nicht über die entsprechende Expertise verfügen, erschweren die Orientierung.

So wie Neurochirurgen, Orthopäden - und auch Psychosomatiker - um Patienten mit Rückenschmerzen konkurrieren, gibt es eben auch diagnostische wie therapeutische Überschneidungen, wenn die Seele leidet. Orientierung durch den Laufweg auf der richtigen Straßenseite ist aber wohl nur in Freiburg möglich - dort befindet sich die Psychiatrie auf der linken und die Psychosomatik auf der rechten Seite. Oder umgekehrt, je nach Standpunkt und Blickrichtung.

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