"Das Einzige, was hilft, ist, sich intensiv mit dieser Situation zu beschäftigen", sagt Rizzo. Der Fachbegriff dafür lautet Expositionstherapie: Therapeuten bitten ihre Patienten beispielsweise, sich in Gedanken so detailliert wie möglich zu erinnern und das Erlebnis exakt zu beschreiben. Manche arbeiten mit Rollenspielen, andere mit Tagebüchern. Das Fach ist kreativ geworden, um jene Menschen zum Sprechen zu bewegen, deren Gehirn aus guten Gründen verhindern will, alles noch einmal durchleben zu müssen.
Nicht alle schaffen es, sich in diese Situation zurückzuversetzen. Auch der junge Soldat probierte es nach seinem Einsatz in Afghanistan mit vielen klassischen Therapien, wirklich geholfen haben sie ihm nicht. Der Durchbruch kam erst, nachdem Rizzo für ihn die erste virtuelle Welt gebaut hatte. Seitdem erreichen den Psychologen aus Kalifornien unzählige Anfragen, der Erfolg hat sich herumgesprochen. Mehrere Hundert Kliniken arbeiten bereits mit seinen VR-Welten - immer wieder melden sich neue Interessenten, mit den immer gleichen Anfragen: "Haben Sie auch ein afrikanisches Dorf?" "Eine Militärbasis auf einem Berg?"
Mit "viel Geld vom Militär", habe er bis heute 14 verschiedene Schauplätze gebaut, erzählt Rizzo. Mit ihnen will er die traumatischen Erlebnisse der meisten Veteranen abdecken. Er zitiert gern einige Metastudien, die für seinen Ansatz sprechen. Sie wollen herausgefunden haben, dass die Expositionstherapie mittels Virtueller Realität ebenso gut anschlägt wie der klassische Ansatz, in dem Patienten die Situation selbst imaginieren oder sich gemeinsam mit Therapeuten an bestimmte Orte begeben. Und die Technik wird immer besser: "Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem VR die traditionelle Therapie überholt", sagt Rizzo. Dennoch seien die Probandenzahlen noch gering, gibt er zu, und es gebe auch Studien, die keinen Vorteil sähen. Andere Experten kritisieren, dass es noch keine Forschung zu den langfristigen Auswirkungen gibt.
"VR ist flexibler, wir können die Welten an den Zustand der Betroffenen anpassen."
Doch Rizzo sieht weitere Vorteile, gerade bei jungen Leuten, die dank der Technologie wieder offen seien, sich überhaupt ihrem Trauma zu stellen. Patienten, wie der Afghanistankämpfer, die sich oft reflexhaft dem klassischen Ansatz verweigern - aus Angst vor neuem psychischen Leid. Rizzo sagt: "VR ist flexibler, wir können die Welten an den Zustand der Betroffenen anpassen." Die Patienten könnten zum Beispiel ganz langsam einsteigen, was die Anfangshürde deutlich senkt.
Auch die Konzerthalle Bataclan in Paris hat Rizzo in seinem Repertoire an VR-Räumen, den Ort, an dem Terroristen 2015 im November 89 Menschen erschossen. Menschen, die damals dabei waren, können in der Simulation in die Halle gehen. Sie ist am Anfang noch leer, erst nach und nach kommen Menschen hinzu, dann fängt die Vorband an zu spielen. Erst wenn die Patienten wirklich bereit sind, kommt das Geräusch der Schüsse, das Klirren der Gläser, die Panik.
Neben den unzähligen Kriegsveteranen behandelt Rizzo auch Frauen, die misshandelt und vergewaltigt wurden. Er baut dafür virtuelle Räume von dunklen Straßenecken rund um Kasernen auf, die Verfolger tragen Uniform. Erste Studien habe gezeigt, dass die Betroffenen nach und nach weniger Stress empfanden, ihr Pulsschlag sich normalisierte. Auch die Aktivierung der Amygdala, einer bei Angst aktiven Gehirnregion, ging zurück. Aber kann man mit dieser Methode nicht Menschen erneut traumatisieren?
Eine Expositionstherapie in VR wirkt besonders gut, wenn man sie mit anderen Methoden kombiniert
Tatsächlich werde darüber viel auf Konferenzen diskutiert, sagt Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention am Uniklinikum Zürich: "Wenn man es nicht zu forsch macht, dann hilft Virtuelle Realität in der Expositionstherapie." Im Gegensatz zu Rizzo ist Maercker aber der Ansicht, dass es weitaus effektivere Methoden gibt. "Expositionstherapie war der Klassiker vor 20 Jahren", VR könne sie gut erweitern.
Doch heute gebe es neue Kombinationen von Therapien zu kognitiv-emotionaler Umstrukturierung, sagt Maercker. Sie werden teilweise um klassische Methoden der Verhaltenstherapie ergänzt, die gegen die begleitenden Schuldgefühle helfen. In Dresden hat Maercker diesen Ansatz bei einer Patientin ausprobiert, die bei den Anschlägen am 11. September 2001 in New York aus einem der Hochhäuser gerannt ist und sich seither vorwirft, andere zurückgelassen zu haben.
Auch eine Expositionstherapie in VR wirkt aus der Sicht von Experten dann besonders gut, wenn man sie mit anderen Methoden kombiniert. In den USA hingegen sei die pure Expositionstherapie nach wie vor groß, sagt Maercker, auch wegen der dortigen Lobby und des Militärs als Geldgeber im Hintergrund. Mit Unbehagen beobachtete er das lange gängige Vorgehen bei der deutschen Bundeswehr, wo nach potenziell traumatischen Einsätzen beim sogenannten "Debriefing" alle Soldaten zusammengerufen wurden und mitten in der Phase der akuten Belastungsstörung über ihre Gefühle sprechen sollten. Zum Teil vor den Augen des jeweiligen Vorgesetzten. Nicht unbedingt eine Situation, in der Soldaten gern Schwäche zeigen.
"Bist du bereit für die Bombe?"
Doch auch wenn VR-Therapien wie die von Rizzo gut wirken, seien sie teuer, sagt der Professor vom Uniklinikum Zürich. Er findet, dass es gute Alternativmethoden gibt, die weniger kosten. Anders sieht es bei Angststörungen wie Höhenangst oder Platzangst aus. Andreas Maercker sagt: "Da könnte eine Behandlung in VR das Mittel der Wahl werden." Anerkannt ist hier zumindest, dass es den Betroffenen am meisten nützt, wenn sie mit der direkten Angstsituation konfrontiert werden. Die Virtuelle Realität hat hier einen großen Vorteil: Das Erlebnis kann genau justiert werden - vom Weberknecht aus der Ferne bis zur haarigen Spinne auf der eigenen Hand.
Auch in Rizzos virtuellem afghanischen Dorf passierte lange nichts, so lange bis der junge Soldat durch die Straßen fahren konnte, ohne nervös zu werden. Irgendwann fragte Rizzo: "Bist du bereit für die Bombe?"
Der Soldat war bereit. Also hat Rizzo die Bombe viele Male explodieren lassen. Der Soldat hat alles ertragen, den Geruch von Rauch, das Schreien der Menschen - schreckliche Erfahrungen. Dafür kann er jetzt wieder ein normales Leben führen.