Psychiatrie:Bereit für den Abgrund

wissen

Illustration: Stefan Dimitrov

Virtuelle Realitäten helfen bei der Therapie von traumatisierten Soldaten. Für die Behandlung von Angststörungen könnten sie bald zum Standard werden.

Von Eva Wolfangel

Der Blick geht nach unten, 100 Meter in die Tiefe - dazwischen: nichts. Kein Fangnetz, kein Geländer. Nur die Füße stehen auf einer schmalen Holzplanke. Von der Straße dringt Lärm nach oben. Es nieselt, es riecht nach feuchtem Holz. Jedes Mal wenn ein Lastwagen vorbeifährt, vibriert das Holzbrett. An Bewegung ist nicht zu denken. Ein falscher Schritt - schon der Gedanke lähmt den Körper.

So echt und dennoch nicht echt: Die Planke liegt in Wirklichkeit nur zehn Zentimeter über dem Boden eines Labors an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg. Ein kleiner Motor verursacht die Vibrationen. Vor dem Holzbrett sorgt ein Föhn für künstlichen Wind; es gibt einen Apparat, der Gerüche im Raum verströmt. Ein Schritt nach vorn reicht, und man steht wieder auf festem Boden. Das Gehirn sagt trotzdem: stop, Gefahr!

Erst mit der Hand von Ernst Kruijff ist es möglich, diesen letzten Schritt zu tun: anstatt des freien Falls folgt der sichere Stand auf dem Laborboden. Das Ganze ist kein Spiel und auch keine Demonstration, um zu zeigen, wie echt die Virtuelle Realität (VR) schon ist - auch wenn das Experiment von Ernst Kruijff, Professor für Computergrafik und Interaktive Umgebungen, das deutlich beweist. Es ist einer der ersten Schritte in Deutschland, um die Virtuelle Realität fit zu machen für die klinische Praxis. "Wir haben viele große Kliniken im Umkreis, und die Ärzte haben enormes Interesse", sagt der Informatiker. Mit der Höhenangst-Demo überzeugt Kruijff selbst Gesunde vom Potenzial der neuen Technologie. Aber seine andere virtuelle Umgebung ist für viele Patienten deutlich beklemmender: eine Straßenbahn.

Das Fachwort für diese Beklemmung lautet "Agoraphobie" - die Angst vor Menschenmengen. Betroffene meiden öffentliche Plätze, Straßenbahnen und vieles mehr: Sie sind dadurch enorm in ihrem Alltag eingeschränkt. Deutlich mehr Menschen klopfen an die Türen der darauf spezialisierten Ärzte, als diese behandeln können. "Die Ärzte sagen uns, sie sind völlig überlastet", sagt Kruijff. Das liegt auch daran, dass die Behandlung aufwendig ist: Therapeuten müssen dafür mit den Betroffenen in die Situation gehen, die Angst auslöst. Sie fahren stundenlang Straßenbahn, und üben ein, dass nichts Schlimmes geschieht. Sie programmieren gewissermaßen das Gehirn um.

Ganz ähnlich verhält es sich mit verschiedenen Phobien, wie der Angst vor Spinnen oder vor Flugreisen: Stets braucht es "echtes" Trainingsmaterial, Dinge oder gar Orte im echten Leben, zu denen man erst mal reisen muss. Dazu kommt das Problem, dass sich viele Betroffene schlicht weigern, in eine überfüllte Bahn zu steigen, um zu üben oder eine Spinne in ihrer Nähe zu ertragen - der Schritt erscheint ihnen zu groß.

Kruijff und seine Kollegen haben deshalb virtuelle Straßenbahnen geschaffen, die sich anpassen können: Betroffene "steigen" mittels VR-Headset zunächst in eine leere Bahn. Sie lernen, mit den ersten Reizen klarzukommen, die bei ihnen sonst Panik verursachen: das Rütteln der Waggons, das Kreischen der Schienen, das Dunkel und die Enge der Tunnel. Dann steigen nach und nach immer mehr (virtuelle) Passagiere ein. Sie drängeln sich, die Betroffenen spüren dank eines Gurtes, der haptische Reize überträgt, wie sie ein anderer Fahrgast anrempelt. Sie riechen den Schweiß des Sitznachbarn, den Döner des Mannes an der Tür. Arzt und Patient können das Erlebnis langsam immer weiter steigern und bearbeiten, direkt in der Klinik, es braucht keine Anreise und keine Suche nach der "richtigen" Straßenbahn.

Die feinen Wasserspritzer im Gesicht, der Wind, der Geruch des Döners: Genau jene Reize, die das Erlebnis in der Virtuellen Realität perfekt machen, quälen eine andere Patientengruppe im Alltag: Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD). Sie reagieren auf bestimmte Schlüsselereignisse, die ihr Gehirn untrennbar mit dem Trauma verbunden hat.

Es misslang den Therapeuten immer wieder, die Betroffenen mit den herkömmlichen Methoden zu erreichen

In den USA häuften sich nach dem Vietnamkrieg Fälle von jungen Soldaten, die mit ihrem Alltag nicht mehr klarkamen. Die angesichts eines Stücks achtlos weggeworfenen Mülls am Straßenrand zu zittern begannen, die bei Rauchgeruch Schweißausbrüche bekamen und plötzlich nicht mehr mit Mitmenschen sprechen konnten. Häufig zogen sich die Betroffenen zurück. Sie litten im Stillen - unverstanden von ihrem engsten Umfeld. Der Grund: Die Patienten konnten nicht erklären, was genau sie so sehr belastete. Wie auch, das Trauma blitzte immer wieder in Situationen auf, in denen niemand damit rechnete: auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen, im ganz normalen Alltag.

Mit jedem neuen Krieg vergrößerte sich das Problem: Der Irak, Afghanistan - jeder fünfte Veteran dieser beiden Kriege litt laut einer Studie der Beratungsfirma RAND an PTSD, insgesamt sind es 300 000 Menschen. Das Militär steckte deshalb viel Geld in psychologische Forschung. Trotzdem misslang es den Therapeuten immer wieder, die Betroffenen mit den herkömmlichen Methoden zu erreichen. Ein Dilemma, von dem irgendwann auch Skip Rizzo erfuhr. Der Psychologe und heutige Leiter des Institute of Creative Technologies an der University of Southern California behandelte schon seit Mitte der 1990er-Jahre Angststörungen mittels Virtueller Realität. 2005 knöpfte er sich erstmals PTSD vor.

Ein Markt in einem afghanischen Dorf. Die typisch lehmfarbenen Häuser, die grelle Sonne, verschleierte Frauen, Männer mit Turbanen, Gespräche am Straßenrand. Ganz langsam bewegt sich der Militärjeep durch die Straßen. Skip Rizzos Patient sitzt darin - und stoppt ein ums andere Mal. "Er zitterte am ganzen Körper", erinnert sich der Psychologe. Erst nach langen Gesprächen, und indem sie immer wieder gemeinsam in diese von Rizzo entwickelte Situation in der Virtuellen Realität eintauchten, lernte der Patient, die Erfahrung zu verstehen und zu bearbeiten. Er kapierte endlich, wieso Müll am Straßenrand ihn im Alltag in Amerika stets völlig verstörte: Beim Einsatz in Afghanistan war eine Bombe am Straßenrand explodiert, versteckt in einem Mülleimer. Die Bombe zerstörte den Wagen und riss seinen Kameraden in den Tod.

Viele Überlebende solcher Situationen plagen irrationale Schuldgefühle. Auch die Ängste vor vermeintlich normalen Alltagsgegenständen wie Müll am Straßenrand lassen sich nicht sofort erklären. Schuld ist eine Funktion des Gehirns, die uns wohl vor weiteren Traumata schützen soll: Sie sorgt dafür, dass wir vor jenen Reizen fliehen, die damals mit dem schlimmen Ereignis zusammenhingen. Im friedlichen Alltag ist diese Reaktion nicht nur hinderlich, sie beschert den Betroffen quälende Flashbacks und macht ein funktionierendes Sozialleben schier unmöglich.

"Wir sind an dem Punkt, an dem VR die traditionelle Therapie überholt"

"Das Einzige, was hilft, ist, sich intensiv mit dieser Situation zu beschäftigen", sagt Rizzo. Der Fachbegriff dafür lautet Expositionstherapie: Therapeuten bitten ihre Patienten beispielsweise, sich in Gedanken so detailliert wie möglich zu erinnern und das Erlebnis exakt zu beschreiben. Manche arbeiten mit Rollenspielen, andere mit Tagebüchern. Das Fach ist kreativ geworden, um jene Menschen zum Sprechen zu bewegen, deren Gehirn aus guten Gründen verhindern will, alles noch einmal durchleben zu müssen.

Nicht alle schaffen es, sich in diese Situation zurückzuversetzen. Auch der junge Soldat probierte es nach seinem Einsatz in Afghanistan mit vielen klassischen Therapien, wirklich geholfen haben sie ihm nicht. Der Durchbruch kam erst, nachdem Rizzo für ihn die erste virtuelle Welt gebaut hatte. Seitdem erreichen den Psychologen aus Kalifornien unzählige Anfragen, der Erfolg hat sich herumgesprochen. Mehrere Hundert Kliniken arbeiten bereits mit seinen VR-Welten - immer wieder melden sich neue Interessenten, mit den immer gleichen Anfragen: "Haben Sie auch ein afrikanisches Dorf?" "Eine Militärbasis auf einem Berg?"

Mit "viel Geld vom Militär", habe er bis heute 14 verschiedene Schauplätze gebaut, erzählt Rizzo. Mit ihnen will er die traumatischen Erlebnisse der meisten Veteranen abdecken. Er zitiert gern einige Metastudien, die für seinen Ansatz sprechen. Sie wollen herausgefunden haben, dass die Expositionstherapie mittels Virtueller Realität ebenso gut anschlägt wie der klassische Ansatz, in dem Patienten die Situation selbst imaginieren oder sich gemeinsam mit Therapeuten an bestimmte Orte begeben. Und die Technik wird immer besser: "Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem VR die traditionelle Therapie überholt", sagt Rizzo. Dennoch seien die Probandenzahlen noch gering, gibt er zu, und es gebe auch Studien, die keinen Vorteil sähen. Andere Experten kritisieren, dass es noch keine Forschung zu den langfristigen Auswirkungen gibt.

"VR ist flexibler, wir können die Welten an den Zustand der Betroffenen anpassen."

Doch Rizzo sieht weitere Vorteile, gerade bei jungen Leuten, die dank der Technologie wieder offen seien, sich überhaupt ihrem Trauma zu stellen. Patienten, wie der Afghanistankämpfer, die sich oft reflexhaft dem klassischen Ansatz verweigern - aus Angst vor neuem psychischen Leid. Rizzo sagt: "VR ist flexibler, wir können die Welten an den Zustand der Betroffenen anpassen." Die Patienten könnten zum Beispiel ganz langsam einsteigen, was die Anfangshürde deutlich senkt.

Auch die Konzerthalle Bataclan in Paris hat Rizzo in seinem Repertoire an VR-Räumen, den Ort, an dem Terroristen 2015 im November 89 Menschen erschossen. Menschen, die damals dabei waren, können in der Simulation in die Halle gehen. Sie ist am Anfang noch leer, erst nach und nach kommen Menschen hinzu, dann fängt die Vorband an zu spielen. Erst wenn die Patienten wirklich bereit sind, kommt das Geräusch der Schüsse, das Klirren der Gläser, die Panik.

Neben den unzähligen Kriegsveteranen behandelt Rizzo auch Frauen, die misshandelt und vergewaltigt wurden. Er baut dafür virtuelle Räume von dunklen Straßenecken rund um Kasernen auf, die Verfolger tragen Uniform. Erste Studien habe gezeigt, dass die Betroffenen nach und nach weniger Stress empfanden, ihr Pulsschlag sich normalisierte. Auch die Aktivierung der Amygdala, einer bei Angst aktiven Gehirnregion, ging zurück. Aber kann man mit dieser Methode nicht Menschen erneut traumatisieren?

Eine Expositionstherapie in VR wirkt besonders gut, wenn man sie mit anderen Methoden kombiniert

Tatsächlich werde darüber viel auf Konferenzen diskutiert, sagt Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention am Uniklinikum Zürich: "Wenn man es nicht zu forsch macht, dann hilft Virtuelle Realität in der Expositionstherapie." Im Gegensatz zu Rizzo ist Maercker aber der Ansicht, dass es weitaus effektivere Methoden gibt. "Expositionstherapie war der Klassiker vor 20 Jahren", VR könne sie gut erweitern.

Doch heute gebe es neue Kombinationen von Therapien zu kognitiv-emotionaler Umstrukturierung, sagt Maercker. Sie werden teilweise um klassische Methoden der Verhaltenstherapie ergänzt, die gegen die begleitenden Schuldgefühle helfen. In Dresden hat Maercker diesen Ansatz bei einer Patientin ausprobiert, die bei den Anschlägen am 11. September 2001 in New York aus einem der Hochhäuser gerannt ist und sich seither vorwirft, andere zurückgelassen zu haben.

Auch eine Expositionstherapie in VR wirkt aus der Sicht von Experten dann besonders gut, wenn man sie mit anderen Methoden kombiniert. In den USA hingegen sei die pure Expositionstherapie nach wie vor groß, sagt Maercker, auch wegen der dortigen Lobby und des Militärs als Geldgeber im Hintergrund. Mit Unbehagen beobachtete er das lange gängige Vorgehen bei der deutschen Bundeswehr, wo nach potenziell traumatischen Einsätzen beim sogenannten "Debriefing" alle Soldaten zusammengerufen wurden und mitten in der Phase der akuten Belastungsstörung über ihre Gefühle sprechen sollten. Zum Teil vor den Augen des jeweiligen Vorgesetzten. Nicht unbedingt eine Situation, in der Soldaten gern Schwäche zeigen.

"Bist du bereit für die Bombe?"

Doch auch wenn VR-Therapien wie die von Rizzo gut wirken, seien sie teuer, sagt der Professor vom Uniklinikum Zürich. Er findet, dass es gute Alternativmethoden gibt, die weniger kosten. Anders sieht es bei Angststörungen wie Höhenangst oder Platzangst aus. Andreas Maercker sagt: "Da könnte eine Behandlung in VR das Mittel der Wahl werden." Anerkannt ist hier zumindest, dass es den Betroffenen am meisten nützt, wenn sie mit der direkten Angstsituation konfrontiert werden. Die Virtuelle Realität hat hier einen großen Vorteil: Das Erlebnis kann genau justiert werden - vom Weberknecht aus der Ferne bis zur haarigen Spinne auf der eigenen Hand.

Auch in Rizzos virtuellem afghanischen Dorf passierte lange nichts, so lange bis der junge Soldat durch die Straßen fahren konnte, ohne nervös zu werden. Irgendwann fragte Rizzo: "Bist du bereit für die Bombe?"

Der Soldat war bereit. Also hat Rizzo die Bombe viele Male explodieren lassen. Der Soldat hat alles ertragen, den Geruch von Rauch, das Schreien der Menschen - schreckliche Erfahrungen. Dafür kann er jetzt wieder ein normales Leben führen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: