Der typische Vogelkundler reibt sich mit Mückenschutz ein, hängt sich ein Fernglas um und pirscht vorsichtig zu den Ruheplätzen der Tiere, die er gerne beobachten möchte. Der fortgeschrittene Ornithologe kann nun vom Weltall aus gleich ein paar tausend Tiere im Blick behalten.
Geleitet von dem deutschen Alexander Gerst haben die zwei Kosmonauten Oleg Artemjew und Sergej Prokopjew in einem fast siebenstündigen Außeneinsatz einen Mast samt Antenne an die Außenhülle der Internationalen Raumstation ISS montiert. Die Anlage ist das Herzstück von Icarus, einem seit Jahrzehnten geplanten Tierbeobachtungsprojekt, das einen Großteil der Erdkugel abdecken wird.
Icarus steht für: International Cooperation for Animal Research Using Space und dreht sich nich ausschließlich um Vögel. Mit der Antenne auf der ISS können Forscher auf der Erdoberfläche die Bewegungen aller Tiere beobachten, denen sie winzige Sender angeheftet oder umgebunden haben: Fledermäuse oder Wasserschildkröten, Ziegen oder eben auch Vögel. Man kann die Sender als Hightech-Variante des guten alten Vogelrings betrachten, mit denen Forscher seit dem 19. Jahrhundert Vögel markieren.
Erdbeobachtung:Das Internet der Tiere
Jedes Jahr verschwinden zehn Milliarden Kleinvögel. Nur wohin? Forscher wollen jetzt viele verschiedene Tierarten mit Sendern ausstatten. Die lebenden Messstationen könnten sogar zum Katastrophenhelfer werden.
Das Auge im All soll aber nicht nur helfen, Migrationsbewegungen von Tieren im großen Stil rund um den Erdball zu verfolgen, was mit erdgebundenen Antennen nicht so einfach möglich ist, auch Medizin und Katastrophenschutz sollen profitieren. Icarus soll einmal als als Frühwarnsystem für Epidemien und Naturkatastrophen wie Erdbeben und Vulkanausbrüche dienen.
Schon lange gibt es Berichte, dass Tiere vor solchen Ereignissen unruhig werden - etwa Ziegen sich am Ätna vor Eruptionen auffällig bewegen. Diesen vermeintlichen siebten Sinn wollen Forscher mithilfe von Icarus nutzen. "Das System erlaubt uns nicht nur zu beobachten, wo ein Tier ist, sondern auch, was es gerade tut", sagt Martin Wikelski, Direktor am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell, er hat das Projekt vor mehr als 16 Jahren erdacht und konzipiert. "Wir könnten ein globales System intelligenter Sensoren einsetzen, um die Welt zu beobachten."
Im Rahmen von Icarus sind viele solche Untersuchungen geplant. So wollen Forscher etwa Papageien in Nicaragua in der Nähe eines Vulkans beobachten, Ziegen im Erdstoß-geplagten Mittelitalien mit Sendern ausstatten, Bären als Erdbebenwächter auf der ostrussischen Halbinsel Kamtschatka nutzen. "Wir fangen jetzt damit an, Tiere an Orten zu besendern, wo Naturkatastrophen auftreten", sagt Icarus-Koordinatorin Uschi Müller.
Zunächst sind 1000 Sender geplant, die Zahl soll rasch steigen. "Letztlich wollen wir 100 000 tierische Spürhunde für die Menschheit", sagt Wikelski. "Wenn wir all diese Informationen kombinieren, erhalten wir ein völlig anderes und neues Verständnis vom Leben auf diesem Planeten."
Eine Sojuz-Rakete hatte die Antenne bereits im Februar zur ISS gebracht. Nach der Montage beginnt nun eine dreimonatige Testphase. Anfang 2019 soll das System dann in Regelbetrieb gehen. Beteiligt sind neben der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos vor allem die Max-Planck-Gesellschaft, das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und die Universität Konstanz. Die deutschen Partner finanzieren die Entwicklung der Technik, die Russen kümmern sich um den Transport und die Installation im All.
Entscheidend für die Forschung sind eigens entwickelte Mini-Sender, die den Tieren rucksackartig auf den Rücken geschnallt oder geklebt werden. Sie wiegen etwa fünf Gramm, sind zwei Kubikzentimeter groß, haben eine 15 Zentimeter lange Drahtantenne und eine Speicherleistung von 500 Megabyte. In Zukunft sollen die Geräte noch kleiner werden. Dann sollen sogar Schmetterlinge oder Heuschrecken Daten funken können.
Neben einer Solarzelle und einer Batterie enthalten sie sechs Sensoren, sagt Walter Naumann, Geschäftsführer der Firma I-GOS, die die sogenannten Basis-Tags mitentwickelt hat. Die Sender sollen etwa zwei bis drei Jahre funktionieren und übermitteln nicht nur die Position des Tiers, sondern auch seine Beschleunigung, die Ausrichtung zum Magnetfeld der Erde, die Umgebungstemperatur sowie Luftdruck und Feuchtigkeit. Sobald die ISS-Antenne in Reichweite ist, setzen die Sender ein kleines Datenpaket per Funk ab.
Wenn alles wie gehofft funktioniert, werden die Sensoren riesige Datenmengen produzieren, die gesichert via ISS zur Erde übertragen werden sollen. Nicht jeder wird die Signale einfach mitlesen und vielleicht missbrauchen können.
Dass auch die Medizin von dem Projekt profitieren kann, soll Wikelskis eigene Forschung zeigen. Der Biologe will in Afrika Flughunde mit Sendern ausstatten, die in riesigen Schwärmen über den Kontinent ziehen. Die Tiere übertragen zwar nach Meinung vieler Forscher nicht das Ebola-Virus, kommen aber mit dem Erreger in Kontakt und tragen Antikörper. Im Falle einer Ebola-Epidemie könnte man, so die Hoffnung, anhand der Wanderungsbewegungen der Fledertiere ermitteln, wo der jeweilige Erreger herstammt - und so die bislang unbekannten Ebola-Reservoire aufspüren.
Forscher weltweit interessieren sich für die Möglichkeiten, die Icarus bietet. "Wir haben Tausende Anfragen", sagt Müller. "Aber zunächst haben deutsche und russische Projekte Priorität." Welche Vorhaben letztlich zum Zug kommen, darüber soll ein international besetztes Ethik-Komitee entscheiden, das derzeit aufgebaut wird. Die Komission soll auch sicher stellen, dass Icarus-Sender nur an vertrauenswürdige Interessenten ausgegeben werden. Denn man könnte das System auch leicht benutzen, um Menschen auzuspionieren.