Primaten:Die Welt von Plumplori, Katta und Aye-Aye

Primaten: Blauaugenmakis (Eulemur flavifrons) leben außer in Zoos nur in einem kleinen Gebiet im Nordwesten Madagaskars. Sie haben blaue oder blaugraue Augen; neben dem Menschen sind sie die einzigen Primaten mit dieser Augenfarbe.

Blauaugenmakis (Eulemur flavifrons) leben außer in Zoos nur in einem kleinen Gebiet im Nordwesten Madagaskars. Sie haben blaue oder blaugraue Augen; neben dem Menschen sind sie die einzigen Primaten mit dieser Augenfarbe.

(Foto: AFP)

Sie sind giftig, hässlich oder pflegen ein äußerst seltsames Sexleben: Eine Reise in die unbekannte Welt der Feuchtnasenaffen.

Von Nicole Paschek

Als der Ökologe George Madani im April 2012 den Wald auf der Insel Borneo betrat, ahnte er noch nicht, dass sein nächtlicher Spaziergang schon wenige Stunden später im Krankenhaus enden würde. Er wollte doch nur ein paar wilde Tiere sehen. In einem Mangobaum entdeckte der Forscher die funkelnden Augen eines Plumploris. Um einen besseren Blick auf das Tier zu erhaschen, kletterte Madani auf den Baum. Durch die Erschütterungen fiel das Tier zu Boden. Dort lag es nun mit erhobenen Armen und gebleckten Zähnen auf dem Rücken. Als Madani es packte und zurück auf den Baum setzen wollte, biss das Tier sich in seinem Finger fest.

Kaum hatte der Wissenschaftler den Lori abgeschüttelt, merkte er es schon: Seine rechte Körperhälfte wurde taub. Nach kurzer Zeit begann auch sein Gesicht anzuschwellen. Da erinnerte Madani sich an etwas, was er vorher hätte bedenken sollen: Einige Plumploris sind giftig - eine äußerst seltene Eigenschaft bei Säugetieren und unter Primaten einzigartig. Doch die Vertreter ihrer biologischen Unterordnung sind noch aus vielen anderen Gründen außergewöhnlich.

Früher nannte man sie "Halbaffen", denn man hielt sie für primitiver als andere Affen. Die Rede ist von Feuchtnasenprimaten, zu denen neben den Loris die Lemuren und Galagos zählen. Sie mögen uns Menschen mit den teils langen Schwänzen und ihrem oft katzenartigen Aussehen vielleicht nicht besonders ähneln, doch alle Primaten haben einen gemeinsamen Vorfahren.

Dieser kam wohl vor 50 Millionen Jahren auf die Insel Madagaskar. Die aus dem gleichnamigen Animationsfilm bekannten Lemuren entstanden nur dort und umfassen rund 100 Arten. "Madagaskar ist ein natürliches Experiment der Evolution", sagt Claudia Fichtel vom Deutschen Primatenzentrum in Göttingen. Sie erforscht seit mehr als 15 Jahren die Lemuren im Kirindy-Wald an der Westküste der Insel. "Vom Festland abgetrennt, haben sich die Lemuren dort ganz unabhängig von allen anderen Affenarten entwickelt. Die dabei entstandene Variation an Merkmalen ist wirklich erstaunlich."

"King Julien", der vielleicht bekannteste Lemur, schwingt im Film neben seinen Hüften auch das Zepter über eine Gruppe Kattas. Im echten Leben aber haben die Weibchen das Sagen. Bei fast allen Lemurenarten stehen in der sozialen Rangordnung die Frauen über den Männern. "Wenn es beispielsweise ums Futter geht, ist bei diesen Arten immer ganz klar das Weibchen der Sieger", erzählt Fichtel. Ausreichend Nahrung ist für die Lemurendamen auch besonders wichtig, schließlich müssen die Weibchen den Nachwuchs austragen und stillen.

Aus natur 02/2017

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    Der Text stammt aus der Februar-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation. Mehr aktuelle Themen aus dem Heft 02/2017 auf natur.de...

Ein weiterer Faktor, der vermutlich zum Matriarchat beigetragen hat: Zwischen den Geschlechtern gibt es keinen Größenunterschied, so dass beide gleich stark sind.

Kattas sind die einzigen Lemuren, die einen Großteil des Tages auf dem Boden verbringen. Alle anderen Feuchtnasenprimaten halten sich fast ausschließlich auf Bäumen auf. Viele Lemuren bewegen sich durch den Wald, indem sie am Stamm klammernd ihren Oberkörper drehen und einen kräftigen Satz zum nächsten Baum machen. Dazu haben sie besonders kräftige und lange Hinterbeine entwickelt. Sifakas sind solche vertikalen Springer. Dort wo es nicht mehr genug Bäume gibt, sind sie gezwungen, sich am Boden weiter fortzubewegen - auf dieselbe springende Art: Sie hüpfen seitlich auf zwei Beinen, die verhältnismäßig kurzen Arme halb erhoben, und rotieren mit ihrem langen Schwanz. So halten sie das Gleichgewicht. Die Bewegungen ähneln denen von Kindern, die mit Begeisterung von Pfütze zu Pfütze springen.

Unter den Lemuren findet sich zudem der kleinste lebende Primat der Welt. Zarte 30 Gramm schwer ist so ein Berthe-Mausmaki. Sein Fortpflanzungsverhalten ist ein Wettlauf mit der Zeit: Direkt nach der Trockenzeit beginnt die wenige Wochen dauernde Paarungszeit. Nur dann öffnet sich die Vagina der Weibchen. Zudem sind sie lediglich während einer einzigen Nacht empfängnisbereit - und das auch nur wenige Stunden. "Ihr Paarungsverhalten ist wirklich erstaunlich. Wenn sie in der kurzen Zeit, in der sie empfängnisbereit sind, kein Männchen finden, verpassen sie eine Fortpflanzung. Eine von vielleicht nur zwei Gelegenheiten im Leben." Die Chance nutzen sie aber in der Regel und paaren sich gleich mit mehreren Männchen. Diese wiederum haben Mechanismen entwickelt, um mit der Paarungswilligkeit der Weibchen und dem starken Konkurrenzdruck mithalten zu können. So wachsen ihre Hoden in dieser Zeit um ein Vielfaches. Im Kampf um die größte Zahl an Nachkommen wollen sie schließlich genug Spermien ins Rennen schicken.

Das Fingertier: eine Klaue wie ein Angelhaken

Das Fingertier, auch Aye-Aye genannt, ist noch so ein kurioser Vertreter der Lemuren. Man könnte es wegen seines zerzausten Fells, den verlängerten Mittel- und Ringfingern und großen, nackten Ohren sogar als hässlich bezeichnen. Doch gerade wegen der letzten beiden Eigenschaften sind sie Meister darin, ihre Leibspeise aufzuspüren: Insektenlarven. Mit dem langen, dünnen Mittelfinger klopfen sie die Bäume ab und horchen nach Hohlräumen unter der Rinde. Diese beißen sie dann auf und langen in das entstandene Loch, um die dort erhoffte Larve herauszufischen. Die Klaue dient dabei als Angelhaken. Das nagerähnliche Gebiss des Fingertieres ist perfekt dazu geeignet, Löcher in die Baumrinde zu beißen. Wie praktisch, dass ihre Schneidezähne ständig wachsen und sich so nie abnutzen.

Alle anderen Feuchtnasenprimaten besitzen dagegen einen Zahnkamm im Unterkiefer. Dieser besteht aus sechs horizontal ausgerichteten Zähnen, die jeweils von einer kleinen Lücke getrennt sind und damit aussehen wie ein Kamm. Wo andere Affen ihre Hände nutzen, um Dreck und Ungeziefer aus dem eigenen Fell und dem ihrer Gruppenmitglieder zu pulen, nutzen Feuchtnasenprimaten ihren Zahnkamm. "Die gegenseitige Fellpflege hat aber auch eine soziale Funktion", ergänzt Fichtel. "Damit stabilisieren sie ihre Beziehungen zu Artgenossen."

Zur Schwestergruppe der Lemuren, den Loriartigen, zählen Galagos und Loris. Galagos findet man nur auf dem afrikanischen Festland, während Loris auch einen Großteil Asiens besiedeln. Alle Loriartigen sind klein und nachtaktiv. Im Dunkel der Nacht streifen sie auf der Suche nach Nahrung durch die Bäume. Manch ein Zeitgenosse würde sich dabei vor Angst in die Hose machen. Einige Galagos tun das auch - aber nicht aus Furcht. Und nicht in eine Hose. Sie urinieren absichtlich auf ihre Hände. So verteilen sie die eigenen Duftstoffe beim Klettern in ihrem Streifgebiet und markieren ihr Territorium.

"Als würden kleine Rubine im Baum schweben"

Loris sind vermutlich die am wenigsten bekannten Vertreter der Feuchtnasenprimaten. Seit mehr als 20 Jahren untersucht Anna Nekaris von der Oxford Brookes Universität diese unscheinbaren Tiere und gründete 2011 die Feldstation "Little Fireface Project" in Indonesien.

Mit Rotlichtlampen auf dem Kopf machen sich die Wissenschaftler im Dunkeln auf die Suche nach den Loris. "Zwei rot funkelnde Augen sind oft das Erste, was wir von den Tieren sehen", schildert die Doktorandin Stephanie Poindexter. "Als würden kleine Rubine im Baum schweben." Jetzt gilt es, sie nicht zu verlieren. Loris bewegen sich meist langsam und nahezu geräuschlos durch die Bäume. Wenn Gefahr droht, erstarren die Primaten. Doch wenn sie wollen, können Loris auch "blitzschnell" davonklettern - bis zu 1,6 Meter legen sie dann in der Sekunde zurück. Spätestens am Rand der Baumkrone müssen sie aber abbremsen. Hier angekommen halten sie sich mit den Hinterbeinen weiter fest, während sie sich langsam strecken und nach dem Ast des nächsten Baums greifen, um schließlich den Rest des Körpers rüberzuziehen.

Als Greifzangenkletterer sind ihre Hände und Füße für das kräftige und lange Zupacken gemacht. So sind Daumen und große Zehe verstärkt und der zweite Zeh beziehungsweise Finger stark verkürzt. Auch ihr Schwanz ist nur noch ein Stummel, da sie diesen nicht zum Ausbalancieren von Sprüngen brauchen. Außerdem haben Loris mehr Brustwirbel als andere Primaten, wodurch sie sich fast schlangenartig durch das Geäst winden können. An eine Schlange erinnert auch der Streifen auf ihrem Rücken. Er variiert in seiner Farbe je nach Lori-Art und Jahreszeit. Vieles an den Loris, von ihrem Aussehen bis zu ihrem Verhalten, ist gemacht für das Leben im Verborgenen. Doch selbst wenn sie einmal entdeckt werden, sind sie nicht wehrlos.

Plumploris sind die einzigen giftigen Primaten der Welt - wie George Madani schmerzlich gelernt hat. Das Gift entsteht durch Kombination ihres Speichels mit einem Sekret aus einer Drüse am Ellbogen. Um es zu produzieren, heben die Affen ihre Arme über den Kopf und lecken an der Drüse. So auch der Plumplori, der Madani biss. Dieser hatte noch Glück im Unglück: Madani war rechtzeitig im Krankenhaus und bekam Adrenalin und Hydrocortison, welche die Schwellung und das Taubheitsgefühl schwinden ließen. Nach einer Woche sah sein Gesicht wieder beinahe normal aus. Etwas länger brauchte der Finger des Forschers. Schließlich heilte der zwar vollständig, doch es gibt auch Berichte von abgestorbenen Gliedmaßen nach einem Loribiss.

"Alle Plumploris sind vom Aussterben bedroht"

Plumploris nutzen ihr Gift möglicherweise auch zum Schutz vor Parasiten wie Flöhen. Denn die Loris verteilen das Gift in ihrem dicken Fell. Von mehr als 300 untersuchten wilden Tieren waren nur zwei mit Parasiten befallen. Nekaris und ihr Team konnten zeigen, dass das Gift einige Insekten lähmte und manchmal sogar tötete. Im Kampf gegen ihre derzeit größten Bedrohungen nutzt das Gift den Plumploris wenig. Der Lebensraum der Primaten schrumpft immer mehr und sie werden illegal gehandelt - als vermeintliche Heilmittel und Haustiere. Auf jedes lebend verkaufte Tier kommen noch viele weitere, die auf dem Weg zum Käufer verenden.

"Alle Plumploris sind vom Aussterben bedroht", sagt Nekaris. Mit dem "Little Fireface Project" versucht sie deshalb, ihnen zu helfen. So baute das Projekt beispielsweise Loribrücken, die voneinander getrennte Waldstücke miteinander verbinden und den Loris dadurch größere Streifgebiete ermöglichen.

"Heutzutage ist es zwar verboten, Lemuren zu jagen, aber das kontrolliert kaum einer"

Auch viele Lemuren sind bedroht. Seit Menschen die Insel Madagaskar besiedelten, sind mindestens 15 Lemurenarten ausgestorben. Darunter auch ein Riese, der mit 160 bis 200 Kilogramm so viel wog wie ein ausgewachsener männlicher Gorilla.

Aufgrund ihrer Größe waren die Schwergewichte wohl eine begehrte Nahrungsquelle. "Heutzutage ist es zwar verboten, Lemuren zu jagen, aber das kontrolliert kaum einer", beklagt Fichtel vom Deutschen Primatenzentrum. Die Affen werden weiter als Buschfleisch verzehrt oder als Haustiere verkauft. Zudem brennen die Menschen den madagassischen Wald nieder, um Platz für Maisfelder und Häuser zu schaffen - oft aus purer wirtschaftlicher Not.

Um die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, gründete Fichtel zusammen mit ihrem Mann und Kollegen Peter Kappeler 2011 den Verein Longon'i Kirindy e.V., was auf Madagassisch "Freunde von Kirindy" bedeutet. Sie haben schon Aufklärungsarbeit an Schulen betrieben, Lehrmittel bereitgestellt, Brunnen renoviert und zusammen mit den Kindern zahlreiche Bäume gepflanzt. Fichtel und Kappeler hoffen, damit letztendlich auch den Lemuren, ihren Studienobjekten, zu helfen.

Denn es gibt noch viel zu erforschen. Erst vor wenigen Jahren wurden neue Lemuren- und Loriarten entdeckt. Noch vor 40 Jahren wurden Loris mit Faultieren verglichen und man dachte, sie würden nicht mehr als 20 Meter pro Nacht zurücklegen. Heute ist bekannt, dass ihr Territorium sich bis zu zehn Hektar weit erstrecken kann. Wer weiß, welche erstaunlichen Entdeckungen noch ausstehen? Wollen wir hoffen, dass uns dazu noch genug Zeit bleibt. Und wollen wir hoffen, dass sie uns auch darüber hinaus noch lange erhalten bleiben. Schließlich gehören sie zu uns - den Primaten.

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