Süddeutsche Zeitung

Politische Systeme:Man gewöhnt sich an alles, auch an Diktaturen

  • Die Menschen gewöhnen sich mit der Zeit an die Staatsform, in der sie leben, schreiben Wissenschaftler im Fachmagazin Science.
  • Je länger eine Demokratie bestehe, umso höher sei die Zustimmung für das System.
  • Der Gewöhnungseffekt tritt allerdings auch in Diktaturen auf.

Von Sebastian Herrmann

In politischen Systemen steckt ein automatischer Stabilitätspakt. Jenseits aller Verfassungskonstruktionen, Institutionen, Parteien und anderer Säulen eines Staates hält ein verborgener Faktor das politische Gefüge aufrecht: Die Menschen gewöhnen sich schlicht an die Staatsform, unter der sie leben - und all das, woran sich Menschen gewöhnen, finden sie gut. Die Ökonomen Nicola Fuchs-Schündeln und Matthias Schündeln von der Goethe-Universität Frankfurt am Main demonstrieren das in einer Studie in Science (Bd. 347, S. 1145, 2015): Je länger Bürger in einer Demokratie leben, desto stärker unterstützen sie diese Staatsform.

"Dabei handelt es sich um einen grundsätzlichen Effekt", sagt Fuchs-Schündeln, "der nicht ausschließlich auf Demokratien beschränkt bleibt." Das ist der Haken, wenn der Gewöhnungseffekt als Sicherheitsanker wirkt: Er funktioniert auch in autokratisch regierten Staaten. Auch dort gewöhnen sich die Bürger an die Umstände und bewerten diese mit der Dauer tendenziell positiver - vorausgesetzt, dass keine dramatischen Beeinträchtigungen ihr Leben verschlechtern. Solange die Verhältnisse nur stabil bleiben, wächst die Zustimmung der Menschen zu der Staatsform.

"Unterstützung der Bürger wächst mit der Dauer der Erfahrung"

Die beiden Volkswirtschaftler der Universität Frankfurt untersuchten diesen Effekt in politischen Systemen weltweit. Dazu werteten sie Daten aus 104 Staaten aus, in denen etwa 380 000 Einzelbeobachtungen aus den Jahren 1994 bis 2013 zusammengefasst waren. Wie erwartet, wuchs die Zustimmung der Bürger während des Untersuchungszeitraums: 8,5 Jahre in einem demokratisch verfassten Land zu leben, steigere die Unterstützung dieser Regierungsform etwa so sehr wie der Besuch einer höheren Schule, schreiben die Ökonomen. Mit diesem Vergleich versuchen die Wissenschaftler den beobachteten Effekt zu quantifizieren. Dass Bildung mit höherer Zustimmung zu demokratischen Werten einhergeht, ist gut belegt.

Zusätzlich können weitere Einflüsse die Zustimmung zur Staatsform beeinflussen, etwa steigender Wohlstand, verbesserte Sicherheit oder andere Faktoren. Die Frankfurter Ökonomen glauben jedoch, auch den Gewöhnungseffekt belegen zu können: Der Vergleich verschiedener Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Landes, die alle unter demselben politischen System leben, ließ den Schluss zu. Allein durch ihr Alter hatten die Bürger unterschiedlich lange Zeit unter der Regierungsform gelebt, und es zeigte sich: "Die Unterstützung der Bürger wächst mit der Dauer der Erfahrung", sagt Fuchs-Schündeln. Der mitunter im Alter nachlassende Drang aufzubegehren kann den Effekt dabei nicht erklären. Er hängt tatsächlich von der Dauer ab, die Bürger im System verbracht haben.

"Das Bekannte wird eher unterstützt, das Fremde ist einem suspekt"

Auch in einzelnen Politikfeldern lässt sich die Auswirkung von Gewöhnung beobachten. Gemeinsam mit dem Harvard-Ökonomen Alberto Alesina hat Fuchs-Schündeln für eine andere Studie die Zustimmungsraten für sozialpolitische Maßnahmen in Ost- und Westdeutschland untersucht. Im Westen plädierten weniger Bürger dafür, dem Staat die Rolle eines starken Akteurs zuzuweisen. Ostdeutsche bewerteten staatliche Interventionen in der Sozialpolitik positiver. Hier wirkten noch die Erfahrungen aus der DDR nach, argumentieren Alesina und Fuchs-Schündeln. In Ostdeutschland zeigten demnach die Älteren Präferenzen für einen starken Staat, so wie sie es aus der Zeit der SED-Herrschaft gewohnt waren. Im Westen präsentierte sich ein genau gegenteiliges Bild: Je älter die Befragten, desto geringer war ihre Zustimmung für einen starken Staat in der Sozialpolitik. Jedoch Gewöhnung wirkt weiterhin: Die Einstellungen der Ostdeutschen gleichen sich denen im Westen immer mehr an.

"Das Bekannte wird eher unterstützt, das Fremde ist einem suspekt", sagt Fuchs-Schündeln. Das spiegelt sich auch in wirtschaftspolitischen Debatten wider: In Europa gelten "amerikanische Zustände" als Schreckgespenst; in den USA bemühen die Diskutanten einen "europäischen Sozialismus" als Endzeitvision. Das belegt nicht nur, wie sehr Menschen schätzen, was sie kennen. Es zeigt auch, wie sehr sie sich gegen Veränderungen sträuben. Zeiten des Umbruchs sind auch deshalb so labile Phasen, weil der stabilisierende Effekt der Gewöhnung erst einsetzen muss. Die Zustimmung der Bürger zu ihrem politischen System wächst natürlich nicht ins Euphorische, aber sie pendelt sich auf hohem Niveau ein. Die Verdrossenheit vieler Deutscher mit ihrem Staat ließe sich daher positiv deuten, vermutet Fuchs-Schündeln: Nur weil Demokratie hier so gefestigt und selbstverständlich sei, diskutieren die Bürger über die Qualität ihrer Institutionen.

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SZ vom 06.03.2015
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