Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Politik und Wissenschaft (5):Zurückhaltung bei der Ethik

Der eine braucht Rat, und der andere gibt ihn. Doch so einfach ist es nicht. Wo die Grenzen wissenschaftlicher Politikberatung liegen.

Peter Graf Kielmansegg

Die Beziehung zwischen ratsuchender Politik und beratender Wissenschaft, denkt man unwillkürlich, müsste einfach und harmonisch sein. Der eine braucht Rat, und der andere gibt ihn. Tatsächlich ist es anders. Das Geschäft der wissenschaftlichen Politikberatung ist problembeladen.

Eine der schwierigen Fragen, die sich beiden Beteiligten in dieser Beziehung stellen, lässt sich am Beispiel der jüngst der Öffentlichkeit vorgelegten und in der Süddeutschen Zeitung kontrovers diskutierten Stellungnahme der deutschen Akademien der Wissenschaften zur Präimplantationsdiagnostik besonders klar erörtern. Die Frage nämlich: Was ist die Aufgabe politikberatender Wissenschaft und was kann nicht ihre Aufgabe sein? Mit ihr, das liegt auf der Hand, muss das Nachdenken über wissenschaftliche Politikberatung recht eigentlich beginnen.

Die Betonung des Selbstverständlichen - "entscheiden muss natürlich der Gesetzgeber" - hilft kaum weiter. Es geht darum, welche Art von Rat im Namen der Wissenschaft erteilt werden soll und darf. Diese Frage stellt sich übrigens den Akademien der Wissenschaften mit besonderem Nachdruck. Denn anders als die vielen eigens berufenen wissenschaftlichen Beratungsgremien, die Räte, Beiräte, Ad-hoc-Kommissionen und so fort, deren Votum immer das Votum einer namentlich benannten Gruppe von Wissenschaftlern ist, nicht mehr und nicht weniger, sprechen die großen Wissenschaftsorganisationen, die Akademien zumal, wenn sie denn Rat geben, im Namen der Wissenschaft.

Ganz unstreitig ist, dass politikberatende Wissenschaft über entscheidungsrelevante Sachverhalte, zu denen Wissenschaft Auskunft geben kann, aufzuklären hat. Das schließt die Abschätzung von Risiken ein; die Prüfung der Frage, welche Mittel geeignet sind, welche Zwecke zu erreichen; die Analyse der verfügbaren Handlungsoptionen. Und häufig lassen sich aus solcher Aufklärung über das Tatsächliche und das Mögliche auch Handlungsempfehlungen stringent ableiten, dann nämlich, wenn über die Ziele politischen Handelns gar keine Meinungsverschiedenheiten bestehen. Dass Seuchen eingedämmt werden müssen und gegen Arbeitslosigkeit etwas getan werden sollte, ist vollkommen unumstritten. Da kann dann auch die Wissenschaft Empfehlungen aussprechen, das heißt, die Politik darüber unterrichten, welche Handlungsstrategien Erfolg versprechen.

Eine ganz andere Frage ist es, ob die Wissenschaft ein Mandat hat, ethische Urteile autoritativ zu verkünden. Es ist wenig hilfreich, über diesen Unterschied mit allgemeinen Floskeln hinwegzureden, Floskeln wie etwa: Wissenschaft habe der Gesellschaft gegenüber eine Bringschuld; sie müsse der Gesellschaft helfen, ihre Probleme zu lösen. Solchen Fraglosigkeiten wird niemand widersprechen. Aber sie verschleiern die Frage, um die es eigentlich geht und die präzise gestellt und präzise beantwortet werden muss: Wo liegen für Institutionen der Wissenschaft, die die Politik beraten, die Grenzen dessen, was sie als Institutionen der Wissenschaft verantwortlich sagen können und dürfen?

Wer liest "Wissenschaftsakademien befürworten die kontrollierte Zulassung der PID", muss, wird und soll ja wohl auch den Eindruck gewinnen, dass die Empfehlungen bis in ihren normativen Kern hinein die Dignität wissenschaftlicher Aussagen haben. Nicht nur die Öffentlichkeit wird die Stellungnahme so verstehen, auch die Politik wird sie in dieser Deutung als Argument verwenden. Der normative Kern der Stellungnahme ist der Rat, dem Anspruch von Eltern auf ein gesundes Kind Vorrang vor dem Überlebensanspruch eines erblich geschädigten Embryos zu geben. Gibt es für diesen Rat eine wissenschaftliche Begründung? Dürfen Akademien der Wissenschaften mit ihrer institutionellen Autorität der Politik einen Rat erteilen, der nicht als Aussage der Wissenschaft gelten kann? Die Antwort auf beide Fragen heißt eindeutig: nein. Einzelne Wissenschaftler, auch Gruppen von Wissenschaftlern, die nur für sich selbst sprechen, haben selbstverständlich die Freiheit, die wissenschaftliche Analyse von Sachverhalten in Urteile zu überführen, die auf ihren eigenen Wertentscheidungen beruhen. Für Institutionen, die die Wissenschaft repräsentieren, gilt das nicht. Sie haben darauf zu achten, dass sie sich nicht mit der Autorität der Wissenschaft für Urteile verbürgen, die nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnis ableitbar sind.

Natürlich können Wissenschaftler, die dafür die nötige Kompetenz mitbringen, auch dazu beitragen, dass ethische Diskurse klarer, genauer, ohne Ausblendungen, auf das Wesentliche ausgerichtet geführt werden; dazu beitragen also, dass alle wissen, worum es geht und welche Argumente in welcher Waagschale liegen. Aber eine ethische Kontroverse entscheiden können auch die Fachleute für Ethik als Wissenschaftler nicht - nicht einmal für sich selbst.

Der Philosoph Otfried Höffe war unter den Befürwortern der Akademie-Empfehlung, soweit ich sehe, der einzige, der in seinem Beitrag zu dem in dieser Zeitung geführten Streitgespräch ein Argument vorgebracht hat, das auch der ernsthaft zu bedenken hat, der bezweifelt, dass Institutionen der Wissenschaft berufen seien, auf ethische Streitfragen Antworten zu geben - ein Argument, das nicht nur für diesen besonderen Fall Bedeutung hat.

Die Empfehlung, Widersprüche seien möglichst aufzulösen, sagt er, dürfe die Wissenschaft geben. In der Tat wird sich der deutsche Gesetzgeber mit der Frage, welche Inkonsistenzen eine Rechtsordnung verträgt, auseinandersetzen müssen. Lässt sich ein Verbot der PID mit der Freigabe der Abtreibung von erblich schwer geschädigten Embryonen vereinbaren?

Anders aber als der Gesetzgeber es tun wird, hat die ethische Debatte zu bedenken, dass sich jeder Widerspruch in zwei Richtungen auflösen lässt. Auf unser Beispiel bezogen: Man kann den Rechtsschutz des Embryos weiter abbauen, man kann ihn aber auch wieder stärker ausbauen. Der Einwand, politisch sei die zweite Option chancenlos, ist wahrscheinlich richtig. Aber er ändert nichts daran, dass auch das Argument vom aufzulösenden Widerspruch am Ende niemandem die ethische Entscheidung erspart.

So erstaunlich es klingt: Es ist nicht zu erwarten, dass die Wissenschaftler sich über die elementare Frage, wo die Grenzen ihrer Kompetenz als Ratgeber der Politik liegen, werden einigen können. Darüber aber sollte man sich einigen können: Wenn die Wissenschaft sich schon nicht mit sich selbst über die Grenzen ihrer Kompetenz verständigen kann, dann ist sie der Öffentlichkeit im Allgemeinen wie der Politik im Besonderen wenigstens eine transparente Debatte über dieses Thema schuldig.

Die Minderheit in den Akademien, die sie im Fall der PID-Stellungnahme führen wollte, musste sich sagen lassen, sie verharre im Elfenbeinturm. Dem ist zu erwidern: Der Auszug aus dem Elfenbeinturm macht die Frage nach den Grenzen der Kompetenz der Wissenschaft doppelt dringlich. Es geht um die Klärung der Bedingungen, unter denen Wissenschaft überhaupt nur ein Recht hat, öffentliches Gehör in politischen Dingen zu beanspruchen.

Der Autor ist Politologe und lehrte bis 2002 an der Universität Mannheim. Von 2003 bis 2009 war er Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

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Quelle:
SZ vom 04.02.2011/mcs
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