SZ-Serie: Politik und Wissenschaft (3):Zur Beratung verpflichtet

Forschung muss sich ins Getümmel der Gesellschaft stürzen. Das ist es, was diese vom Wissenschaftler verlangt.

Ernst-Ludwig Winnacker

Nach einer Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina zur Präimplantationsdiagnostik (PID) hat sich Dietmar Willoweit, bis vor kurzem Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, in der SZ auf eine Weise geäußert, die aufhorchen lässt.

Es geht um die Frage, ob Forscher nur Fakten sprechen lassen, diese Informationen aber nicht bewerten sollten. "Beschreibung - nicht Empfehlung - dessen was getan werden muss, ist die adäquate Form wissenschaftlicher Aussagen", so heißt es. Für jemanden, der sich als Wissenschaftler auch der Politikberatung verschrieben hat, widerspricht dies allem, was die moderne Gesellschaft von uns Forschern verlangt und auch verlangen kann. Als drei von zahllosen Zeugen hierfür seien die Royal Society in London, die Nationale Akademie der Wissenschaften der USA und Altbundeskanzler Helmut Schmidt genannt.

Die Royal Society, eine der angesehensten Wissenschaftsakademien der Welt, beschreibt ihre Aufgabe unter anderem so: "Wir zielen darauf ab, Politikgestaltung (policy-making) mittels bestem wissenschaftlichem Rat zu beeinflussen." Die Nationale Akademie der Wissenschaften der USA, begründet von Abraham Lincoln, sieht dies nicht anders und publiziert wöchentlich Handlungsempfehlungen zu den unterschiedlichsten Sachverhalten. Wer die Webseite der "National Academies" unter dem Stichwort "Last updates" aufschlägt, wird allein für die vergangenen drei Tage mehr als 20 neue Studienprojekte finden, die von "Arzneimittel in der Kinderheilkunde" über das "Fördern von Uran in Virginia" bis hin zum "Umgang mit fehlenden Daten bei klinischen Tests" reichen, alles mit Blick auf Handlungsempfehlungen und durchaus mit politischem und ethischem Bezug.

Altbundeskanzler Schmidt hat wiederholt von der Bringschuld der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft gesprochen. In einer Rede aus dem Jahre 2004 steht: "In unserer Zeit kommt es (aber) entscheidend darauf an, dass Menschen mit Überblick, Leute mit Wissen, mit Erfahrung und mit rationaler Urteilskraft sich ausreichend Gehör verschaffen." Urteilskraft, dies ist hier der entscheidende Hinweis. Als vor einiger Zeit in Genf ein neuer Teilchenbeschleuniger in Betrieb genommen werden sollte, war die Sorge zu hören, dort könnten Schwarze Löcher entstehen, die den gesamten Globus verschlingen. Wie reagiert man auf solche Bedenken?

Da reicht es nicht, populärwissenschaftlich zu erklären, was in diesem Beschleuniger passiert und was Schwarze Löcher sind. Das wäre auch bei Wikipedia nachzuschlagen. Vielmehr geht es um diffizile Fragen der Risikobewertung, um die Analyse von Wahrscheinlichkeiten für Schwarze Löcher angesichts bestimmter energetischer Konstellationen. Eine solche Bewertung ist selbst mit bester Allgemeinbildung nicht zu leisten. Wer Politik und Gesellschaft bei solchen Fragen im Regen stehen lässt, verharrt im vertrauten Elfenbeinturm und hat von der Bringschuld der Wissenschaft wenig oder nichts verstanden.

Voraussetzung ist allerdings, dass die Empfehlungen nach bestem Wissen und Gewissen ausgesprochen werden, also auf unabhängiger Basis und nach Abwägen aller bekannten, auch unbequemen Sachverhalte. Außerdem muss die Grenze zwischen den wissenschaftlichen Fakten und den Empfehlungen an die Politik transparent und deutlich erkennbar sein. Bei der erwähnten Stellungnahme der Leopoldina zur PID ist dies geschehen. Sie entstand unter Beteiligung von Medizinern, Reproduktionsbiologen, Humangenetikern, Entwicklungsbiologen, Philosophen und Ethikern sowie Rechtswissenschaftlern und berücksichtigt daher die für diese Problematik nötige Fächervielfalt. Der Inhalt der Stellungnahme verrät, wie ernst man gearbeitet und wie schwer man es sich gemacht hat.

Leider wird nicht immer so sorgfältig verfahren. Vor gut einem Jahr geriet der Weltklimarat (IPCC) in die Schlagzeilen. Nach der Veröffentlichung seines vorerst vierten Sachstandsberichts stellte sich heraus, dass dieser wegen Fehlern und anderer Schwächen, insbesondere in der Darstellung von Risikobewertungen, den hohen Ansprüchen wissenschaftlicher Beratung nicht gerecht wurde. Angesichts der Bedeutung des Themas setzte der UN-Generalsekretär daraufhin unter Mithilfe des Inter-Academy Council (IAC), einer Vereinigung der Nationalen Wissenschaftsakademien der Welt, eine Arbeitsgruppe ein, der auch ich auf Empfehlung der Leopoldina angehörte.

Sie sollte sich den Hintergründen dieses Schwächeeinbruchs des Weltklimarates annehmen, der großes Ansehen genießt und 2007 sogar den Friedensnobelpreis erhielt. Unser Bericht, der im August 2010 dem UN-Generalsekretär übergeben wurde, enthält nicht nur eine Ursachenanalyse der beobachteten Fehler und Schwächen in der Führungsstruktur und den Kommunikationsmechanismen dieser Institution, sondern auch klare Empfehlungen dazu, wie man die Probleme beseitigen könnte. Welchen Sinn hätte es gehabt, es bei einer Mängelanalyse zu belassen? Eine ganz andere Frage ist es, ob die Weltgemeinschaft diesen Empfehlungen nachkommen wird. Da ist sie genauso frei, wie die deutsche Politik in ihrer Befassung mit der Stellungnahme der Leopoldina zur PID.

Die hier beschriebene Rolle von Akademien in der Politikberatung ist für Deutschland neu. Die Erhebung der Leopoldina zur Nationalen Akademie erfolgte erst im Jahre 2008. Kein Wunder, dass es noch Empfindlichkeiten gibt, wie man daran erkennt, dass die vom bayerischen Akademiepräsidenten erhobenen Einwände nicht nur prinzipieller, sondern auch formaler Natur sind. Man wird die Formalitäten der Zusammenarbeit zwischen Länderakademien und der Nationalen Akademie möglicherweise verbessern müssen. Unbenommen davon bleibt jedoch, dass es nun eine Nationalakademie gibt und dass diese sich, neben anderen, eher klassischen Akademieaufgaben, auch der Politikberatung verpflichtet hat, mit allen Konsequenzen. Länderakademien sind nicht gezwungen, den Elfenbeinturm zu verlassen und sich in das gesellschaftliche Getümmel zu stürzen. Ob sie damit aber gut beraten sind, ist eine ganz andere Frage.

Nationale Akademien spielen in Europa und auch weltweit eine wachsende Rolle. Die Nachfrage nach Beratung ist riesig. Längst gibt es einen Zusammenschluss der Nationalen Wissenschaftsakademien der EU-Staaten (EASAC), die in der Politikberatung an Bedeutung gewinnen, zuletzt im Dezember 2010 mit einer klugen Stellungnahme zur Synthetischen Biologie. Selbst in den UN spricht man von einem Wissenschaftsberater für den Generalsekretär und den Präsidenten der Generalversammlung. Es ist daher gut, dass auch Deutschland eine Nationale Akademie der Wissenschaften besitzt, um international ernst genommen zu werden. Rückzugsgefechte sind reine Zeitverschwendung. Auch die altehrwürdige Bayerische Akademie der Wissenschaften sollte mitmachen, und, wie beispielsweise auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Nationale Akademie der Technikwissenschaften Acatech, ihren Weg neben der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina suchen.

Der Autor ist Biochemiker und war von 1998 bis 2006 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie von 2007 bis 2009 Generalsekretär des Europäischen Forschungsrats ERC.

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