SZ-Serie: Politik und Wissenschaft (6):Mehr als harte Fakten

Die Beratung von Politik und Gesellschaft ist wesentliche Funktion einer Nationalen Akademie der Wissenschaften. Und sie muss auch ethische Aspekte beleuchten.

Jörg Hacker

Am Dienstag dieser Woche haben deutsche Wissenschaftsakademien unter Führung der Nationalen Akademie Leopoldina eine Stellungnahme vorgelegt, die für eine begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik (PID) plädiert. Das hat eine Debatte ausgelöst: Darf die Wissenschaft politische Handlungsempfehlungen aussprechen, oder soll sie bei ihrer Empirie bleiben, wie es der Jurist und Historiker Dietmar Willoweit in der SZ vom 20. Januar forderte? Darauf antwortet Jörg Hacker, Biologe und Präsident der Leopoldina.

Die verantwortungsvolle und unabhänige Beratung von Politik und Gesellschaft ist wesentliche Funktion einer Nationalen Akademie der Wissenschaften, wie es sie seit 2008 auch in Deutschland gibt. Wenn wir heute davon sprechen, dass Wissenschaft die eigentliche Leitkultur ist, dann heißt das auch, dass Wissenschaft in der Mitte der Gesellschaft steht. Sie darf die Gesellschaft und ihre Entwicklungen angesichts rasanter wissenschaftlicher Fortschritte nicht aus dem Elfenbeinturm heraus betrachten und sich ansonsten möglichst abgeschirmt ihrer Kunst hingeben. Sie muss sich aktiv und transparent bei der Bewältigung von Herausforderungen der Zukunft einbringen. Darauf haben Politik und Gesellschaft einen Anspruch. Das bedeutet, dass die Wissenschaft eine Bringschuld hat. In Dürrenmatts "Die Physiker" heißt es: "Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkungen alle Menschen. Jeder Versuch eines einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern."

Akademien sind Orte, an denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den relevanten Fragen der Gegenwart und Zukunft widmen können. Sie sind angesichts der Fülle brisanter Themen auch notwendige Orte, um die Konsequenzen wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Umgang mit ihnen auszuleuchten. Akademien sind und bleiben in guter Tradition Gelehrtengesellschaften. Und doch sind sie heute mehr als dies.

Wie politisch darf eine Nationale Akademie der Wissenschaften sein? In den - zehn Jahre nach Gründung der Leopoldina - erstmals 1662 gedruckten Statuten der Akademie ist die Rede davon, dass es bei dem Zweck der Akademie um die Aufklärung in dem Gebiete der Heilkunde und den daraus hervorgehenden Nutzen für die Mitmenschen gehe. Ein Motto ist, "die Natur zu erforschen zum Wohle der Menschheit". Die Leopoldina hat seitdem eine enorme Entwicklung erlebt und ihr Spektrum erheblich erweitert und differenziert. Doch der Nutzen für die Mitmenschen, das Wirken für das Allgemeinwohl, ist Leitlinie geblieben. Um wie viel mehr muss das gelten, seit die Leopoldina im Jahr 2008 in den Stand einer Nationalen Akademie der Wissenschaften gesetzt wurde. Sie bekam damals von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder den Auftrag, Politik und Öffentlichkeit über gesellschaftliche wissenschaftliche Zukunftsfragen zu beraten. Sie nimmt diese Aufgabe in Zusammenarbeit mit den anderen Wissenschaftsakademien, aber auch mit den großen Forschungsorganisationen wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft wahr.

Vor einigen Wochen hatten die Akademien sich zu Fragen der prädiktiven genetischen Diagnostik geäußert. Insofern nimmt es nicht Wunder, dass nun auch die Diagnostik im vorgeburtlichen Stadium mit einer Stellungnahme beleuchtet wurde. Die Präimplantationsdiagnostik hat einen deutlichen Wissenschaftsbezug, sie ist aktuell und wird in Gesellschaft und Politik intensiv diskutiert. In den kommenden Monaten wird über verschiedene Gesetzesentwürfe dazu entschieden werden. Es besteht ein Bedarf an Information zu den komplexen naturwissenschaftlichen, medizinischen, ethischen und rechtlichen Zusammenhängen, nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellschaft. Auch andere Gremien wie der Deutsche Ethikrat oder die Bundesärztekammer werden sich zu dieser Problematik äußern.

Die Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik von dieser Woche wurde von der Leopoldina federführend erarbeitet und von der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften acatech und der Mehrheit der in der Akademienunion vereinten Länderakademien mitgetragen. Die Stellungnahme hat eine öffentliche Debatte darüber initiiert, ob Wissenschaft überhaupt politikberatend tätig sein und sich auch ethisch zu derartigen vorwiegend medizinisch-biologischen Themen äußern solle.

Es wäre nicht genügend, lediglich die "harten Fakten" aus Medizin, Biologie und Recht darzustellen, ohne auch die Folgen und ethischen Aspekte zu reflektieren. Eine Akademie muss Farbe bekennen und darf sich nicht hinter puren Fakten verschanzen. Die unverzichtbare Selbstreflektion der Wissenschaft hat ihre Ausstrahlung in die Gesellschaft auch in einer ethischen Positionierung. Dies ist für eine enge Verbindung von Wissenschaft und Gesellschaft wichtig. Was wäre eine Beratung ohne Rat?

Ein Thema wie die Präimplantationsdiagnostik ist nach unserer Auffassung schwerlich ohne die ethische Dimension fassbar und darstellbar. Das gilt auch für andere Bereiche wie beispielsweise das Arbeiten mit humanen embryonalen Stammzellen oder die Synthetische Biologie. Die ethischen Aussagen können als Anregung für die eigene Meinungsbildung verstanden werden, die durchaus zu einem anderen Schluss kommen kann. Klar ist, dass die Entscheidung im Hinblick auf Gesetzgebung und andere Maßnahmen die Politik selbst treffen muss.

Was die Öffentlichkeit erwarten kann, ist das Aufzeigen von wissenschaftlichen Grundlagen, Handlungsoptionen, möglichen Konsequenzen und gesellschaftspolitischen Implikationen wie eben auch der ethischen Aspekte.

Die Nationale Akademie nimmt für sich in Anspruch, mit herausragender und breit gefächerter Expertise Stellung zu nehmen. Die Akademiemitglieder zählen zu den führenden Vertretern ihrer Fächer und gehören den unterschiedlichsten Forschungseinrichtungen an. Dies gewährleistet eine breite wissenschaftliche Expertise, wenn die Akademie die Stimme erhebt. Das war in den vergangenen Jahren so, als die Akademie mit unterschiedlichen Partnern Themen behandelte wie die Energieforschung in Deutschland oder Aspekte der grünen Gentechnik. Erfahrungsgemäß sind Themen zur Bioethik besonders prädestiniert, von der Wissenschaft aufgegriffen und in Form von Stellungnahmen aufbereitet zu werden.

Die Nationale Akademie äußert sich in völliger Unabhängigkeit. Sie ist keinerlei partikularen oder wirtschaftlichen Interessen unterworfen. Deshalb behält sie sich vor, sich nach eigener Entscheidung zu Themen zu äußern und Empfehlungen zu geben. Die Nationale Akademie der Wissenschaft ist dem freien Geist verpflichtet. Schon im 17. Jahrhundert hatten die Mitglieder der Leopoldina das außerordentliche Privileg, in ihrem Journal frei von jeglicher Zensur publizieren zu können. Diesem Erbe fühlen wir uns in jeder Hinsicht verpflichtet und in diesem Sinne wollen wir weiter wirken.

Bertolt Brecht lässt seinen Galileo sagen: "Ich hatte als Wissenschaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit erreichte die Astronomie die Marktplätze." Dieses wünschen wir uns auch für die Wissenschaft insgesamt - und das gilt nicht nur für die Marktplätze, sondern auch für Schulen, Parlamente und Ministerien.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: