Psychologie:Einfach mal den Mund halten

Lesezeit: 2 Min.

Es gibt immer mehr polarisierende Themen, über die es sich streiten lässt. Eines war die Corona-Pandemie und ihre Folgen. (Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-tmn)

Eine Studie legt nahe: Wer Menschen mit seltsamen Meinungen erreichen will, sollte ihnen zuhören, statt Vorträge zu halten - auch wenn das Kraft kostet.

Von Sebastian Herrmann, München

Manchmal, es lässt sich nicht vermeiden, treffen Menschen aufeinander, die ihre jeweilige Wahrheit bei konkurrierenden Anbietern pachten. Die Beteiligten spulen dann automatisierte Verhaltensabläufe ab, gehen auf Sendung und versuchen, die bösen Ansichten aus dem Geist des anderen mit lauten Worten zu exorzieren. Die Adressaten dieser Überzeugungsbemühungen reagieren jedoch mit Bockigkeit auf solche Ansprachen. Weil sie doch erstens überzeugt sind, selbst im Besitz der Wahrheit zu sein, und zweitens ihrerseits motiviert sind, denjenigen auf den rechten Pfad zu holen, der sie gerade volllabert. Es entsteht eine Situation, die gewiss nicht als Gespräch und auch nicht als Debatte bezeichnet werden darf, sondern als ritualisiertes Geschrei. Am Ende sind alle empört, beleidigt, fühlen sich angegriffen, ungerecht behandelt, nicht wahrgenommen und - das ist hier das Entscheidende - verschanzen sich noch tiefer in ihrer Version der Wahrheit.

Anlässe für dieses Spiel bestehen in großer Zahl, die Liste der polarisierenden Themen wird immer länger. Was also tun? Der Verhaltensforscher Guy Itzchakov von der Universität Haifa hat einen Vorschlag, den er zusammen mit Kollegen in Form einer Studie im Journal of Personality and Social Psychology unterbreitet: zuhören und einfach mal, das ist nun paraphrasiert, den Mund halten. Ja, der Vorschlag lautet, andere reden zu lassen, selbst wenn diese eine empörende Position vertreten. Die Experimente der Forscher, an denen mehrere Hundert Probanden teilgenommen haben, legen einen segensreichen Effekt nahe: Die Sprecher geraten nicht in den Zustand empörter Bockigkeit und fangen stattdessen an, wenigstens ein bisschen über sich und ihre Haltung nachzudenken. Auf diese Weise heftet sich womöglich Zweifel an Gewissheiten, Überzeugungen beginnen zu wackeln.

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Wenn die Wissenschaftler um Itzchakov von Zuhören sprechen, dann meinen sie eine Art Premium-Zuhören. Für die Experimente trainierte das Team extra einige Mitstreiter in dieser Fertigkeit. Klingt komisch, ist es aber nicht: Der übliche Reflex angesichts provozierender Vorträge besteht ja darin, sich sofort Argumente für die Gegenattacke zurechtzulegen, nonverbales Missfallen zu signalisieren und bei erster Gelegenheit in die Ausführungen des anderen zu grätschen. Der Premium-Zuhörer unterlässt all das. Er hält fleißig Augenkontakt, unterlässt Signale des Tadels, brummt gelegentlich aufmunternd und fragt allenfalls (in einer Gesprächspause!), ob er dies oder jenes richtig verstanden hätte.

Auf diese Weise, so die Forscher um Itzchakov, stelle sich eine Nähe zwischen weltanschaulichen Gegnern ein, die nun im besten Fall zu Gesprächspartnern werden. Und der Vortragende nähert sich offenbar in seiner Haltung dem stummen Zuhörer an. Zumindest ließ sich dies in den Versuchen beobachten, in denen die Probanden über die Abschiebung illegal eingereister Migranten, die Covid-19-Impfung oder das bedingungslose Grundeinkommen debattierten beziehungsweise: einander zuhörten.

Klar, konstruktiv den Mund zu halten, kostet Kraft. Wer diese nicht aufbringen kann, könnte einen anderen Tipp beherzigen und auf die Beschimpfung Andersmeinender verzichten. Das nämlich ist garantiert kontraproduktiv.

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