Süddeutsche Zeitung

Plastik in den Ozeanen:Per Anhalter durchs Meer

Lesezeit: 4 min

Auf zahllosen winzigen Plastikteilen reisen ganz neue Mikrobengemeinschaften durch die Ozeane - sie haben den Müll als Lebensraum erschlossen. Was das für die Ökosysteme bedeutet, ist noch weitgehend unbekannt.

Von Andrea Hoferichter

Linda Amaral-Zettler zeigt ein Bild wie aus einem Weltuntergangsszenario: Auf grauen Trümmern thront eine Scheibe mit einer Art Radioaktivitätswarnzeichen. Doch die Biologin, die am meeresbiologischen Institut Josephine Bay Paul Center sowie an der Brown University in Rhode Island forscht und lehrt, gibt Entwarnung: "Zu sehen ist eine Kieselalge, die auf Mikroplastik lebt. Wir haben das Ensemble aus dem Ozean gefischt." Die Aufnahme stammt aus einem hoch auflösenden Elektronenmikroskop.

Die Alge mit der besonderen Zeichnung ist nur ein Beispiel für Leben auf Plastikteilchen, die oft kleiner als ein Samenkorn sind. Denn während wir Menschen noch grübeln, wie man den Müll aus den Meeren wieder herausbekommt, haben Mikroben ihn längst als neuen Lebensraum in Beschlag genommen. Algen, Viren und Bakterien haften an den langlebigen Oberflächen wie an Korallenriffen, vermehren sich und bilden wechselnde Wohngemeinschaften mit anderen Mikroorganismen. Auch größere Organismen hat Amaral-Zettler schon gesichtet. Es sei schon fast ein kleiner Zoo.

Auf Peeling-Perlen könnten Keime aus Kläranlagen oder Tierdärmen um die halbe Welt treiben

Die Forscherin untersucht das noch junge Ökosystem namens Plastisphäre schon seit vielen Jahren. Sie will herausfinden, welche Arten sich unter welchen Bedingungen auf Plastikpartikeln niederlassen und wie sie die marine Mikrobenwelt verändern. "Mikroorganismen in den Meeren sind für viele ganz wesentliche Prozesse unseres Lebens verantwortlich", betont sie. "Das sogenannte Phytoplankton zum Beispiel produziert mehr als 50 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen."

Mit Mikroorganismen beladenes Mikroplastik, also Kunststoffteile, die kleiner als fünf Millimeter sind, könnten durchaus Einfluss auf solche Systeme haben. Allein schon wegen der Menge. Bis zu zweieinhalb Millionen Tonnen sogenanntes primäres Mikroplastik gelangen jedes Jahr in die Meere, schätzt die Weltnaturschutzunion IUCN in einer aktuellen Studie. Fast alles komme vom Land. Den Mammutanteil machen Textilfasern aus, die sich in der Waschmaschine aus Kleidungsstücken lösen, mit dem Abwasser in Flüsse und schließlich in die Meere treiben, und der vom Wind verwehte Abrieb von Autoreifen. Hinzu kommt das "sekundäre Mikroplastik", Teilchen, die beim Zerfall größerer Objekte entstehen. Insgesamt beträgt die Jahreszufuhr von Kunststoffmüll in die Meere nach einer Studie, die 2015 im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde, mehr als zwölf Millionen Tonnen.

In den Ozeanen geht die Reise weiter. Strömungen, Wind und Wellen treiben die Partikel samt Mikrobenfracht selbst an die entlegensten Orte der Welt. So können neue Arten in fremde Gefilde gelangen, dort womöglich Algenblüten verursachen oder krankmachende Keime verbreiten. Zum Beispiel solche, die sich in Kläranlagen auf Textilfasern oder auf Plastikperlen aus Kosmetik-Peelings abgelagert haben.

Vorstellbar ist auch, dass Kunststoffteilchen, die von einem Tier gefressen und wieder ausgeschieden wurden, mit Darmbakterien behaftet sind. Amaral-Zettlers Team fand vor ein paar Jahren Bakterien auf Plastik, deren Artverwandte schwere Durchfälle verursachen können. Woher sie stammten und ob sie wirklich Schaden anrichten können, ist nicht bekannt. Mit jeder Mikroben-WG vagabundiert zudem ein Nährstoffpaket durchs Meer. Auch das könnte sich auf bestehende Ökosysteme auswirken.

Der Forschungsbedarf ist hoch - zurzeit gibt es deutlich mehr Fragen als Antworten. "Wenn wir Kunststoffteilchen untersuchen, wissen wir in der Regel nicht einmal, ob es sich bei den Mikroorganismen darauf noch um die Originalpopulation handelt. Wir wissen nicht, woher die Teilchen kommen und was sie schon erlebt haben", erzählt Amaral-Zettler. Immerhin gebe es eine Art "biogeografischen Fußabdruck". Man könne an der Mikrobengemeinschaft erkennen, ob das Plastikteilchen im Atlantik oder im Pazifik gefunden wurde. Auch zwischen einzelnen Regionen innerhalb der großen Ozeane lassen sich Unterschiede finden, die unter anderem auf spezielle Salzgehalte, Temperaturen und Strömungen zurückzuführen sind. Jede Art hat eben ihr eigenes Wohlfühlklima.

Sicher ist auch, dass sich die Gemeinschaften der Mikroorganismen auf den Plastikteilen deutlich von denen im umgebenden Meerwasser unterscheiden. Amaral-Zettlers Team hat sogar ganz neue Bakterienarten entdeckt. "Allerdings ist unklar, ob es daran liegt, dass diese Arten bisher an anderen Orten noch nicht gefunden wurden oder ob es tatsächlich Arten sind, die sich an Kunststoffe angepasst haben", räumt sie ein. Um mehr herauszufinden, sammeln die Forscher immer wieder mit engmaschigen Netzen Kunststoffmüll aus dem Wasser und sortieren die Teilchen anschließend mit der Hand. Sie untersuchen die Plastikteilchen samt Siedlern mit Licht- und Elektronenmikroskopen und analysieren das Erbgut der Mikroben. Von August an wird Amaral-Zettler am Royal Netherlands Institute for Sea Research (NIOZ) in Nordholland arbeiten und von dort mit besonders feinen Netzen auf den Atlantik fahren, um noch kleinere Teilchen als bisher herauszufischen.

Schon nach Stunden im Wasser haben sich erste Bakterien auf dem Kunststoff festgesetzt

In der Ostsee ist zurzeit ein Team um Sonja Oberbeckmann und Matthias Labrenz vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde unterwegs. Die Wissenschaftler erforschen, welche Mikroorganismen sich an verschiedenen Orten auf Plastikteilchen und, zum Vergleich, auf Holzstückchen niederlassen. Dazu hängen sie Plastikproben in Netzen auf hoher See und an einer Flussmündung aus. Manche werden sie nach ein paar Wochen, andere nach ein paar Monaten noch einmal genauer unter die Lupe nehmen. "Die Besiedlung beginnt im Grunde sofort", berichtet die Forscherin. "Nach Stunden haben sich erste Bakterien festgesetzt. Später kommen auch Algen und andere Mikroorganismen dazu." Die Gemeinschaft wachse, wie auf jeder anderen Oberfläche auch, Schicht auf Schicht. Die jeweils obere ernähre sich von den Stoffwechselprodukten der unteren. Unter dem Elektronenmikroskop sehen solche Mikroben-WGs wie ein Haufen loser Wollfäden aus.

Vor ein paar Jahren untersuchte Oberbeckmann, damals noch an der britischen University of Hull, ob sich manche Mikroben lieber auf einer Plastik- als auf einer Glasflasche niederlassen. Die internationale Studie wurde 2016 im Fachblatt Plos One veröffentlicht: Die Wissenschaftler hatten Plastikflaschen und Glasflaschen für jeweils zwei Monate an verschiedene schwimmende Messstationen in die Nordsee vor der Küste Großbritanniens gehängt. "Wir fanden allerdings kaum Unterschiede", berichtet die Meeresbiologin. Nur zwei Bakterienarten schienen Plastikflaschen zu bevorzugen. Beide sind dafür bekannt, dass sie im Prinzip komplexe Kohlenstoffverbindungen abbauen können. Ob sie auch mit Plastik zurechtkommen, ist aber noch unklar.

Auf plastikverzehrende Bakterien als Lösung für die Müllprobleme der Menschheit zu bauen, wäre wohl ohnehin unredlich. Zwar berichtete Amaral-Zettlers Team schon 2011 im Wissenschaftsmagazin Nature erstmals von Mikroben, die Kunststoffoberflächen in mondartige Kraterlandschaften verwandeln. Doch unklar ist, welche Stoffwechselprodukte dabei entstehen, ob sie vielleicht sogar schädlicher sind als intaktes Plastik. "Außerdem schätzen wir ja an vielen Kunststoffen gerade, dass sie so stabil sind. Wer will schon einen Kunststoff, der bei Kontakt mit Wasser sofort zerfällt?", gibt Amaral-Zettler zu bedenken. Die Biologin plädiert stattdessen für sammeln und recyceln. Und für kompostierbare Kunststoffe, dort wo diese Sinn ergeben, etwa für Lebensmittelverpackungen. Ein Leben ganz ohne Plastik kann sie sich jedenfalls nicht vorstellen "Das birgt natürlich eine gewisse Ironie", gibt sie lächelnd zu. Denn ob Spritzflaschen, Boxen oder Planktonnetze: Die meisten Utensilien für ihre wissenschaftlichen Untersuchungen sind aus Kunststoff.

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Quelle:
SZ vom 01.08.2017
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