Physik:Myonen-Experiment stellt Standardmodell infrage

Physik: Teilchenbeschleuniger am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab).

Teilchenbeschleuniger am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab).

(Foto: Fermilab)

Messungen am Fermilab-Beschleuniger in den USA deuten darauf hin, dass es noch unbekannte Elementarteilchen oder Naturkräfte gibt. Die Ergebnisse seien "überzeugende Hinweise auf eine neue Physik".

Von Christoph von Eichhorn

Ein Experiment am US-amerikanischen Forschungszentrum Fermilab bei Chicago legt nahe, dass sich ein subatomares Teilchen nicht so verhält, wie vom Standardmodell der Physik vorhergesagt. Das könnte auf eine neue Grundkraft der Physik hindeuten, oder auf bislang unbekannte Formen von Materie. "Heute ist ein außergewöhnlicher Tag, der nicht nur von uns, sondern von der ganzen internationalen Physiker-Gemeinschaft lang erwartet wurde", sagte Graziano Venanzoni, ein an den Versuchen beteiligter Physiker vom italienischen Nationalinstitut für Kernphysik. Das Fermilab sprach von einem "wegweisenden Ergebnis". Insgesamt waren mehr als 200 Physiker von 35 Forschungseinrichtungen aus sieben Ländern an den Experimenten beteiligt.

Myonen heißen die Elementarteilchen, die nun die Fundamente der Physik erschüttern. Sie zählen zu den grundlegenden Bausteinen des Universums, wiegen 207 Mal so viel wie ein Elektron, sind allerdings deutlich kurzlebiger. Auf natürliche Weise entstehen Myonen etwa, wenn kosmische Strahlung auf die Erdatmosphäre trifft, wobei die Teilchen innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder zerfallen. In Laboren wie dem Fermi National Accelerator Laboratory, kurz Fermilab, werden sie massenhaft künstlich erzeugt und mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch einen ringförmigen Beschleuniger geschickt, um ihre Wechselwirkung mit anderen Kräften und Teilchen zu studieren.

Vor allem eine Eigenschaft macht die Myonen zum perfekten Fenster in die subatomare Welt: In einem Magnetfeld verhalten sie sich wie ein winziger Kompass, dessen Zeiger mit einer bestimmten Frequenz rotiert. Die Stärke dieses internen Magnets der Myonen und damit ihre Kreiselbewegung in einem Magnetfeld wird vom sogenannten g-Faktor beschrieben, der mit dem Standardmodell sehr genau errechnet werden kann.

Abweichungen in der achten Nachkommastelle

Wie das "Myon-g-2"-Experiment im US-Bundesstaat Illinois nun zeigte, ist diese Vorhersage jedoch mangelhaft - das vor 50 Jahren entwickelte Standardmodell scheint also Lücken aufzuweisen. Denn die Ergebnisse, die nun unter anderem im Fachjournal Physical Review Letters veröffentlicht wurden, zeigen, dass Myonen etwas schneller rotieren als erwartet. Das deutet darauf hin, dass die Mini-Magneten möglicherweise auch von unbekannten Kräften oder Teilchen beeinflusst werden.

Während die Myonen durch das Magnetfeld rasen, interagieren sie auch mit einem Sammelsurium subatomarer Teilchen, die in ihrem Umfeld entstehen und kurz darauf wieder vergehen. Diese Interaktionen lassen die Myonen schneller oder langsamer kreiseln. Auch bei diesem sogenannten "anormalen magnetischen Moment" maßen die Physiker eine Abweichung vom Standardmodell, und zwar in der achten Nachkommastelle. "Das ist ein starker Beleg dafür, dass das Myon gegenüber etwas empfindlich ist, das nicht in unserer besten Theorie enthalten ist", sagte der an Myon-2-g beteiligte Physiker Renee Fatemi von der University of Kentucky. Nur was dieses Etwas ist, können die Physiker noch nicht sagen. Denkbar ist etwa eine fünfte Naturkraft - neben Gravitation, Elektromagnetismus, starker und schwacher Kernkraft. Oder ein neues Elementarteilchen zusätzlich zu den 17 bekannten des Standardmodells.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei den gemessenen Abweichungen um rein statistische Fluktuationen handelt, liegt bei 1 zu 40 000. Damit erreichen die Messungen noch nicht den Grad an Sicherheit, ab dem Physiker typischerweise von einer Entdeckung sprechen. Dennoch seien die Ergebnisse "überzeugende Hinweise auf eine neue Physik", teilte das Fermilab mit. Bislang sind erst sechs Prozent der Daten des Experiments ausgewertet. Mehr Sicherheit - und mögliche Hinweise, worauf die Myonen so sensibel reagieren könnten - erwarten sich die Wissenschaftler von der Auswertung der restlichen Datenmenge in den kommenden Monaten.

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