Physik:Gewichtiges Atome-Zählen

Wie viel ein Kilogramm ist, entscheidet seit dem Jahre 1889 ein Block aus aus Platin und Iridium. Physiker fordern nun eine neue Definition - und zählen die Atome in einem Kilogramm Silizium.

Inga Ludwig

Runder als diese Kristallkugel ist kein Gegenstand auf der Welt. Zwar misst sie nur knapp zehn Zentimeter im Durchmesser - würde man sie aber auf die Größe der Erde aufblasen, wären die höchsten Erhebungen keine zwei Meter hoch.

Kilogramm Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB)

Wissenschaftler der Braunschweiger Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) versuchen mit einem Kugelexperiment, das Kilogramm durch die Anzahl von Atomen einer bestimmten Sorte festzulegen. Dazu sollen im Rahmen des Avogadro Projekts die Atome einer ein Kilogramm schweren Kugel aus Silizium abgezählt werden.

(Foto: AFP)

Dieser nahezu perfekte geometrische Körper befindet sich im Labor der Braunschweiger Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB). Sie ist dort in den Händen von Metrologen, Wissenschaftlern also, die sich mit dem Messen befassen. In diesem Fall arbeiten sie an einer neuen Festlegung des Kilogramms.

Die derzeit gültige Definition der Maßeinheit von Masse sollte ihrer Ansicht nach so schnell wie möglich der Vergangenheit angehören. Als einzige der sieben Basiseinheiten der Physik wird das Kilogramm nämlich noch immer, so wie es im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, mit einem realen Gegenstand definiert: einem Zylinder aus Platin und Iridium, 39 Millimeter hoch und 39 Millimeter im Durchmesser, der im Keller des Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) nahe Paris aufbewahrt wird.

Ein Kilogramm ist per Definition die Masse dieses Gewichtsstücks. Waagen in aller Welt werden anhand von möglichst exakten Kopien dieses Prototyps geeicht, die sich im Besitz der nationalen metrologischen Institute befinden, in Deutschland ist das die PTB. Ginge das Urkilogramm von Paris verloren, so kämen die Menschen im Alltag zwar weiterhin zurecht, doch die Physik stünde vor einem Scherbenhaufen. Denn es gäbe keine Definition für das Kilogramm mehr. Auf Dauer würde es Unterschiede geben, ein Kilo in Deutschland wäre dann vielleicht ein bisschen weniger als in Japan.

Um das zu verhindern, wird das Urkilogramm nur selten aus seinem Safe geholt, wo es unter mehreren Glashauben steht. Nur zweimal geschah dies seit Inkrafttreten der Kilogramm-Definition im Jahr 1889 - um die Übereinstimmung mit seinen Doppelgängern aus aller Welt zu überprüfen und "alles wieder in Harmonie zu bringen", wie Richard Davis sagt, der mehr als 20 Jahre lang Hüter des Urkilogramms war. Dabei zeigte sich: Die Masse fast aller der etwa 40 Kopien hat im Lauf der Jahre im Vergleich zum Pariser Prototyp zugenommen, wenn auch nur um die Winzigkeit von einigen Millionstel Gramm.

Warum das Urkilogramm im Vergleich leichter zu werden scheint, weiß derzeit niemand. Da das Urkilogramm das Kilogramm definiert, ist unklar, ob der Prototyp Masse verliert, oder die Kopien zunehmen.

Für wahrscheinlich halten die meisten Metrologen, dass alle Kilogrammstücke Material eingebüßt haben, und der Prototyp am meisten. Im Verdacht steht Wasserstoff-Gas, das bei der Herstellung in der Legierung eingeschlossen worden ist, und seither entweicht. Immerhin versieht das Metallstück seit mehr als 100 Jahren seinen Dienst, und die Herstellungsverfahren waren damals weniger ausgereift als heute. Die ältesten Zylinder sollten demnach die anfälligsten sein.

Andere Wissenschaftler favorisieren die Theorie, nach der die Kilogrammstücke trotz allen Putzens beim Gebrauch Material ansammeln. Je häufiger ein Zylinder zu Vergleichsmessungen benutzt wird, desto schwerer müsste er also sein. Das selten benutzte Urkilogramm sollte demnach weitgehend verschont geblieben sein.

Ob das Rätsel je gelöst wird, ist unklar. "Man macht keine Experimente mit Prototypen", sagt Michael Gläser. Schließlich birgt jedes Hantieren die Gefahr einer Beschädigung. Die Chancen auf eine Klärung werden daher steigen, wenn das Kilogramm so wie die anderen Maßeinheiten auch, etwa der Meter oder die Sekunde, völlig anders definiert wird: über ein objektives Messverfahren, das keinen schwindsüchtigen Metallblock aus dem 19. Jahrhundert mehr braucht.

Ein Meter beispielsweise ist seit 1983 als Länge der Strecke definiert, die Licht im Vakuum während einer 299.792.458stel-Sekunde durchläuft. Die Lichtgeschwindigkeit ist seither als Naturkonstante, nämlich 299.792.458 Meter pro Sekunde definiert. Maßeinheiten gehen somit aus unveränderlichen Naturkonstanten hervor, die - zumindest theoretisch - jederzeit an jedem Ort der Welt reproduziert werden können.

Maximale Ungenauigkeit von zwei Millionstel Prozent

Um sicherzustellen, dass eine solche Neudefinition des Kilogramms nicht zu stark von der alten abweicht, müssen zunächst die beteiligten Naturkonstanten in der alten Kilogramm-Einheit ausreichend genau bestimmt werden. Die Physiker wollen eine maximale Ungenauigkeit von zwei Millionstel Prozent akzeptieren. Zwei unterschiedlichen Ansätzen trauen die Metrologen zu, diese Auflagen zu erfüllen.

Ur-Kilogramm

Der internationale Kilogramm-Prototyp wird im Keller des Bureau International des Poids et Mesures (BIPM) nahe Paris unter drei Glasglocken im Vakuum aufbewahrt, um ihn vor Schmutz und Beschädigung zu schützen.

(Foto: AFP)

Die Wissenschaftler an der PTB versuchen mit ihrem Kugelexperiment, das Kilogramm durch die Anzahl von Atomen einer bestimmten Sorte festzulegen. Dazu müssen die Metrologen allerdings "ein makroskopisches Objekt mit einer atomaren Auflösung messen", sagt Gläser, dessen Gruppe an der PTB sich zum Ziel gesetzt hat, die Atome einer ein Kilogramm schweren Kugel aus Silizium abzuzählen.

Um diese unvorstellbar große, 24-stellige Zahl zu bestimmen, ist äußerste Präzision erforderlich. Becker und seiner Gruppe ist dabei kürzlich ein kleiner Durchbruch gelungen. Mit einer Unsicherheit von nur drei Millionstel Prozent konnten sie die Avogadro-Zahl bestimmen, die definiert, aus wie vielen Atomen zwölf Gramm Kohlenstoff bestehen - so genau wie kein Experiment zuvor. Trotzdem fehlt noch ein Quäntchen zur angepeilten Genauigkeit. Derzeit arbeitet die Gruppe an einem neuen Gerät, mit dem der Durchmesser ihrer Siliziumkugel noch präziser bestimmt werden kann.

Ein alternativer Ansatz zur Neudefinition des Kilogramms führt über ein sperriges Gerät, mit dem in einer komplizierten Prozedur mechanische und elektromagnetische Kräfte ins Gleichgewicht gebracht werden sollen. Weil dabei mechanische gegen elektrische Leistung aufgewogen wird, trägt das Projekt den Namen "Watt-Waage".

Die Naturkonstante, die hier gemessen werden soll, ist die Planck-Konstante, eine Größe aus der Quantenphysik, die nur indirekt mit Masse zu tun hat. Watt-Waagen werden derzeit an mehreren Instituten in den USA und Europa aufgebaut und getestet, so zum Beispiel am METAS in Bern, dem Schweizer Pendant zur PTB. "Wir werden unser erstes Projekt in diesem Jahr abschließen, aber wir sind noch nicht bei der gewünschten niedrigen Messunsicherheit", sagt Henri Baumann, einer der beiden Leiter des Berner Projekts. Deswegen baut die Gruppe schon an der nächsten Waage, von der sich Baumann für 2013 ein genaueres Ergebnis erhofft.

Obwohl beide Konzepte verschiedene Ansätze verfolgen und unterschiedliche Naturkonstanten messen, können sie letztlich direkt miteinander verglichen werden, weil die Konstanten ineinander umgerechnet werden können. Von einem Konkurrenzkampf ist ohnehin nicht zu reden: Eine Neudefinition des Kilogramms wird erst möglich, wenn drei Experimente einen übereinstimmenden und ausreichend genauen Wert für die beiden Konstanten präsentieren können. Die Braunschweiger Siliziumkugel hat gute Chancen, die beiden anderen Messungen werden wahrscheinlich von zwei der Watt-Waagen kommen.

Richard Davis ist zuversichtlich, dass es 2015 eine Entscheidung geben wird, wenn die "Generalkonferenz für Maße und Gewichte" in Paris zum übernächsten Mal zusammentritt. Dann wird nach Meinung der Experten wahrscheinlich entschieden, das Kilogramm über die Planck-Konstante zu definieren. Michael Gläser bedauert dies ein wenig: "Eine Atommasse wäre mir lieber gewesen", sagt er, "bei der Planck'schen Konstante muss man halt ein bisschen erklären". Tatsächlich könnte diese Neudefinition Schullehrer in Erklärungsnot bringen. An der Wursttheke wird sie jedoch wohl unbeachtet bleiben.

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