Philosophie und Wissenschaft:Die Freiheit der Fruchtfliege

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Auch Insekten treffen Entscheidungen - beweist dies, dass doch ein freier Wille existiert? Der Zoologe Björn Brembs plädiert für ein neues, biologisches Verständnis der Willensfreiheit.

Ulrich Pontes

Die Gehirnforschung hat die Existenz eines freien Willens radikal in Frage gestellt. Doch der Zoologe Björn Brembs, Heisenberg-Stipendiat an der FU Berlin, will ihn ausgerechnet am Beispiel der Fruchtfliege rehabilitieren. In einem Überblicks-Artikel für das Fachblatt Proceedings of the Royal Society B (Bd.278, S. 930, 2011) plädiert er für ein neues, biologisches Verständnis der Willensfreiheit.

Niemand kann vorhersagen, wohin diese Fruchtfliege gleich aufbrechen wird. (Foto: Rickard Ignell)

SZ: Herr Brembs, Sie erforschen Fruchtfliegen - berechtigt das zu Aussagen über den freien Willen?

Brembs: Bei der Willensfreiheit geht es im Wesentlichen um die Fähigkeit, in der gleichen Situation unterschiedlich zu handeln - also auf bestimmte Reize mal so, mal anders zu reagieren, oder auch spontan zu handeln, wenn es gar keinen äußeren Anlass gibt. Und diese Variabilität des Verhaltens finden wir auch schon bei Fruchtfliegen.

SZ: Sie billigen einer Fruchtfliege einen freien Willen zu?

Brembs: Der freie Wille der Fruchtfliegen ist weniger frei als unserer. Vielleicht verhält es sich wie bei einer Perle: Erst gab es ein Sandkorn, und dann hat sich Schicht um Schicht darauf abgelagert. Die fertige Perle, das ist unser menschlicher freier Wille, der alles Mögliche mit einschließt, zum Beispiel künstlerische Kreativität. Aber das Sandkorn der Freiheit, die Verhaltensvariabilität, hat wohl schon ein gemeinsamer Vorfahr von Mensch und Fruchtfliege besessen.

SZ: Manche Gehirnforscher behaupten seit einiger Zeit, der freie Wille an sich sei eine Illusion.

Brembs: In der öffentlichen Diskussion wird vereinfacht. Dass es keinen freien Willen im klassischen Sinn gibt, heißt ja noch lange nicht, dass unser Gehirn so vorhersagbar ist wie ein Räderwerk. Auch die betreffenden Neurobiologen lassen etwas Freiheit und Raum für Kreativität. Nein, ich denke, das Einzige, wogegen sie zu Recht Sturm laufen, ist die dualistische Idee, derzufolge es einen von der Materie losgelösten Geist gibt, der Entscheidungen treffen kann.

SZ: Was entscheidet die Fliege?

Brembs: Wenn Sie 100 Fliegen vor eine Lampe setzen, krabbeln ungefähr 70 Fliegen auf das Licht zu und die anderen 30 davon weg. Testet man diese 30 noch einmal, tritt wieder diese 70-30-Prozent Aufteilung auf. Es kann also keine genetische oder andere Festlegung sein - jede Fliege trifft jedes Mal neu eine 70-prozentige Entscheidung, auf das Licht zuzulaufen. Experimente haben gezeigt, dass sich solche Entscheidungswahrscheinlichkeiten durch Lernprozesse verändern lassen. Hat man zwei Düfte, die die Fliegen zunächst gleich gern mögen, kann man durch Bestrafung per Elektroschocks zu 80-20-Prozent-Entscheidungen kommen. Aber 20 Prozent laufen immer noch zum gefährlichen Duft.

SZ: Das Verhalten der einzelnen Fliege lässt sich also nicht vorhersagen?

Brembs: Genau, für jede einzelne Beobachtung gilt das sogenannte Harvard Law of Animal Behavior: "Unter exakt kontrollierten Versuchsbedingungen macht ein Tier genau das, wozu es gerade Lust hat." Was diesem schönen Gesetz neurobiologisch zugrunde liegt, das versuchen wir herauszufinden.

SZ: Was könnte der biologische Sinn dieser Unsicherheit sein?

Brembs: Ohne die Unvorhersagbarkeit hätten etwa Raubtiere leichtes Spiel: Zum Beispiel gibt es Wasserschlangen, die einen Reflex mancher Fische ausnutzen: Links vom Fisch bewegen sie das Wasser leicht, der Fisch will nach rechts fliehen - und schwimmt der Schlange genau ins Maul. Variabilität ist auch wichtig, um sich an neue Umgebungen gut anzupassen. Wenn ein Lebewesen in einer sich verändernden Umwelt die beste Überlebensstrategie finden will, muss es möglichst vieles ausprobieren.

SZ: Das heißt, zufälliges Verhalten ist ein Überlebensvorteil?

Brembs: Genau. Wobei genauso wichtig ist, dass nicht alles gleich zufällig ist - wenn eine Fliege auf ein Hindernis zufliegt, sollte sie ja möglichst zuverlässig ausweichen. Und wenn Sie auf der Autobahn fahren, sind nicht vorhersagbare Manöver auch kein Überlebensvorteil. Man geht nun davon aus, dass das Gehirn diese Variabilität kontrollieren kann: Wenn ein Tier - oder Mensch - sich in einer neuen Situation zurechtfinden muss, regelt es die zufällige Komponente hoch, wenn es eine bekannte Sache möglichst effizient tun will, regelt es sie runter.

SZ: Wie kommt bei alledem der Zufall überhaupt ins Spiel?

Brembs: Die Physik weiß seit hundert Jahren, dass die Welt nicht streng deterministisch ist. In jedem System gibt es ein Hintergrundrauschen, teils durch Quanteneffekte bedingt, immer aber auch durch die thermische Bewegung. Das macht es prinzipiell unmöglich, den Lauf der Welt exakt vorauszuberechnen. Wir glauben nun, in unseren Versuchen Hinweise gefunden zu haben, dass das Gehirn dieses Hintergrundrauschen nutzt und je nach Bedarf verstärken kann. Wie das funktioniert, wissen wir bisher nicht, aber ich stelle es mir im Prinzip als eine Art Zufallsgenerator mit regelbarem Verstärker vor.

SZ: Ist das echte Freiheit? Wo bleibt die Möglichkeit, selbst aktiv zwischen Optionen zu entscheiden?

Brembs: Attraktiv ist folgende Hypothese, für die es bisher leider nur sehr indirekte Hinweise gibt: Zum Zufallsgenerator kommt eine Selektionsebene hinzu. Entscheidung wäre dann ein zweistufiger Prozess: Erst werden Verhaltensoptionen generiert, dann wird mit Hilfe des Willens eine Auswahl getroffen.

SZ: Bei der Auswahl spielen vermutlich auch determinierende Faktoren hinein - Gene, frühe Prägungen, Umwelt?

"Der freie Wille der Fruchtfliegen ist weniger frei als unserer." Björn Brembs möchte den Begriff des "freien Willens" rehabilitieren. (Foto: oh)

Brembs: Ja. Und so ergibt sich eine Kombination aus Zufall und Vorhersagbarem, ein Mittelding zwischen Freiheit und Determinismus. Dass es so eine Grauzone gibt, wird oft vernachlässigt. Dabei kennen wir seit 150 Jahren die Evolutionstheorie und wissen, dass dort zufällige und richtunggebende Prozesse, nämlich Mutation und Selektion, zusammenwirken. Dieses Verständnis von teils zufälligen, teils deterministischen Prozessen müssen wir auch auf die Neurobiologie anwenden. Dass hier solch ein Mittelding vorliegt, hat die mathematische Auswertung unserer Versuche mit Fruchtfliegen gezeigt.

SZ: Und Menschen? Es heißt, wir würden erst handeln, dann Gründe erfinden.

Brembs: Studien zeigen, dass auch viele menschliche Entscheidungen hinterher vom Bewusstsein rationalisiert werden. Da wir nicht wissen, wie das Bewusstsein funktioniert, können wir auch nicht wirklich sagen, welchen Einfluss es hat. Klar ist nur, dass manches schon wegen der Laufzeiten bestimmter Nervensignale längst entschieden ist, bevor das Bewusstsein eingreifen kann. Aber hier wird nun noch mal der Unterschied von meinem Begriff und dem landläufigen Verständnis deutlich: Freier Wille nach meiner Definition ist unabhängig vom Bewusstsein!

SZ: Was sagen Ihre Fachkollegen?

Brembs: Keiner stellt die von mir beschriebene Verhaltensvariabilität in Frage. Manche kritisieren allerdings, es sei kontraproduktiv, den Ausdruck "freien Willen" zu rehabilitieren, nachdem man so lange gegen das alte, dualistische Verständnis gekämpft hat. Ich halte dagegen: Mit der Willensfreiheit haben wir einen Begriff, der ausdrückt, dass wir Verhaltens- oder Entscheidungsoptionen haben. Andere Kollegen bezweifeln, dass das Rauschen eine zentrale Rolle spielt. Es Freiheit zu nennen, sei doch reichlich übertrieben. Ich hoffe allerdings, dass wir mit unseren Forschungen zeigen können, dass es eine zentral ins Gehirn eingebaute Funktion ist. Wenn ich neuronale Mechanismen für die Variabilitätskontrolle finde, dann wäre das ein Hinweis darauf, dass es eben kein Nebeneffekt ist, sondern ein von der Evolution selektiertes, bedeutsames Merkmal. Meine Hypothese ist sogar, dass es die Hauptaufgabe des Gehirns ist, die Balance zwischen Freiheit und Determinismus zu finden.

SZ: Ganz konkret: Hätte ich, als ich vorhin an dieser verlockenden Tafel Schokolade vorbeikam, eine Chance gehabt, sie nicht aufzuessen?

Brembs: Natürlich hätten Sie eine Chance gehabt. Wahrscheinlichkeiten sind äußerst selten genau null oder eins. Wie groß Ihre Chance war, hängt natürlich davon ab, ob Sie zum Beispiel schokoladensüchtig sind oder jemand mit der Pistole Sie gezwungen hat. Aber ganz auszuschalten ist die Variabilität nie. Selbst wenn Sie das Beispiel schlechthin für eine immergleiche Reaktion nehmen, den Kniesehnenreflex: Um ihn wirklich so zu beobachten wie im Lehrbuch beschrieben, müssen Sie erst das Gehirn vom Rückenmark abtrennen! Sonst nämlich oktroyiert das Gehirn selbst diesem einfachen Reflex noch eine zusätzliche Variabilität auf .

© SZ vom 10.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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