Philosophie:Die Rettung der Seele

Hirnforschung und Biologie prägen ein zunehmend maschinelles Menschenbild -jetzt halten die Philosophen dagegen.

Philip Wolff

Als die Ureinwohner der Xingu-Region in Brasilien 1887 zum ersten Mal vor einer Kamera standen, erstarrten sie vor Schreck. Sie glaubten, die Kamera raube ihnen die Seelen: eine mythische Angst, geboren aus der Vorstellung, menschlicher Geist sei identisch mit einem Abbild des Körpers und ließe sich also ablichten. Was würden die Menschen aus der Ferne mit diesem Geist wohl anstellen?

Die abendländischen Forscher hingegen staunten. Schließlich bestand für sie kein Zweifel, dass es unmöglich ist, Seelen fotografisch festzuhalten. Aus Sicht moderner, methodischer Denker war das eine primitive Vorstellung.

Schon im 17. Jahrhundert hatte der französische Naturforscher und Philosoph René Descartes den physischen Körper und den immateriellen Geist analytisch getrennt. Der Körper galt fortan als Maschine und der Geist als unsterbliches Wesen außerhalb der physischen Welt.

Heute ist die Lage komplizierter. Längst wissen Hirnforscher und Philosophen, dass die zwei Welten Descartes', der Geist und die Körpermaschine, eng miteinander verknüpft sein müssen, dass zum Beispiel Gedankenprozesse immer an die Aktivität von Nervenzellen im Gehirn gekoppelt sind.

Doch birgt gerade dieses Wissen die Gefahr, Hirnphysis und Geist für dasselbe zu halten: Hirnforscher bilden mithilfe von Tomografen neuronale Prozesse ab und erklären menschlichen Geist für identisch mit dem Inhalt ihrer Bilder. Aus den beobachteten Gesetzmäßigkeiten der Hirnaktivität schließen sie auf einen Geist, der sich maschinell nachbilden und prinzipiell auch als Chip in die Tasche stecken ließe.

Leicht fallen sie so - mitten in der aufgeklärten Wissenschaftswelt des 21.Jahrhunderts - wieder in eine Art mythischen Denkens zurück. Davor warnen jetzt Philosophen in seltener Deutlichkeit.

Sie sehen sich mit einem naturwissenschaftlichen Menschenbild konfrontiert, das dem schlichten Glauben der Xingu nicht ganz unähnlich ist: "Geist wird auf physiologisches Geschehen reduziert", warnt der Bonner Philosophie-professor Günter Seubold.

"In dieser Sicht ist Geist nichts anderes als Körper und damit ebenfalls Maschine", sagt Santiago Ewig, philosophisch geschulter Mediziner und Leiter des Thoraxzentrums Ruhrgebiet.

In dieser naturwissenschaftlichen Gleichung haben Geistes- und Humanwissenschaftler keinen Platz und sehen ihre Existenz gefährdet. Deshalb laden sie in diesem Jahr beinahe monatlich zu Tagungen und Kongressen ein, um ihren Gegenstand, den freien Geist, vor naturwissenschaftlicher Reduktion zu retten.

Sie stellen der Hirnmaschine, die aus physikalisch-chemischen Zuständen und deren kausaler Wechselwirkung besteht, den Menschen entgegen, der aus frei gewählten, bewussten Gründen handelt: zwei unvereinbare Menschenbilder.

Wie sollen freier Geist und Maschine zusammen in ein Erklärmodell des Menschen passen? Dieser Frage gehen seit Jahresbeginn die Philosophen Julian Nida-Rümelin und Volker Gerhardt gemeinsam mit Naturwissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen in der Arbeitsgruppe "Humanprojekt" der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften nach.

Rettungsversuch des freien Geistes

Ein ambitionierter Rettungsversuch des freien Geistes, denn durch scheinbar beweiskräftige Bilder und statistische Belege hat die moderne Hirnmaschinen-Forschung längst Deutungshoheit erlangt: Schließlich erzeugt sie nützliches Anwendungswissen, weil sie Gesetzmäßigkeiten in wiederholbaren Versuchen belegt - anders als die interpretierenden Geisteswissenschaften, die unwiederholbare Einzelfälle und Biografien aus deren jeweiliger Eigentümlichkeit heraus deuten.

"Das hat zu einer Dominanz des Maschinen-Menschenbildes geführt, die mittlerweile alle geisteswissenschaftlichen Disziplinen infrage stellt", sagt der Bonner Philosophieprofessor Günter Seubold. Die Pädagogik beispielsweise werde "von der Neuroforschung mittlerweile geradezu bedrängt und bestimmt."

So würden aus Versuchen an Mäusen didaktische Konzepte für Schulkinder abgeleitet - weil schließlich die neuronalen Gesetzmäßigkeiten im Mäusehirn dieselben seien wie im Menschenhirn.

Tatsächlich lernen die Tiere im Labor des Magdeburger Hirnforschers Henning Scheich, einem unangenehmen Schwachstromreiz im Käfigboden zu entfliehen, indem sie über eine Hürde in den Nachbarkäfig springen. Dann lernen sie, auf ein Signal hin zu fliehen, das den Stromreiz ankündigt.

"Der Lerneffekt bei diesem Vermeide-Erfolg geht einher mit einer starken Dopaminausschüttung. Und diese interne Belohnung führt überhaupt erst zur Gedächtniskonsolidierung", sagt Scheich. Seine Schlussfolgerung lautet: Erst der Druck eines Problems und das befreiende Aha-Erlebnis machen Lernen effektiv, weil sie bewirken, dass Informationen dank Dopamin im Langzeitgedächtnis gespeichert werden.

"Die Friede-Freude-Eierkuchen-Pädagogen, die Kinder mit Belohnungen zum Lernen bewegen wollen, übersehen das." Der Philosoph Seubold kontert: "Wenn Lernen nur ein Körpervorgang ist, wird die Pädagogik abgewickelt und in die naturwissenschaftliche Fakultät integriert. Aber haben Mäuse auch Schulen, Universitäten oder Lehrstühle für Pädagogik eingerichtet?"

Zumindest folgen ihre neuronalen Vorgänge denselben Gesetzen wie im Menschenhirn. "Doch wer den Menschen allein mit solchem Zellgeschehen erklärt, verleugnet das Wesen einer menschlichen Natur, die aus sozialen Erfahrungen hervorgeht, und schafft damit letztlich alle menschliche Verantwortung ab", sagt der Frankfurter Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner.

Welcher erzieherische Grundsatz, welche Moral sollte schließlich für eine Hirnmaschine gelten, die austauschbar ist zwischen Mensch und Maus? Woher kämen Sinfonien Beethovens, die Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle? Und was bliebe von Philosophie, Sozial- und Rechtswissenschaften übrig als leeres Gerede?

Prinzip der moralischen Schuld aufgeben?

Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth stellte bereits zur Diskussion, ob im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufzugeben sei, weil niemand sich gegen die naturgesetzlichen Automatismen seines Gehirns entscheiden könne. Oft ließen sich in Täter-Therapien zwar kognitive, doch keine emotionalen Einsichten in begangenes Unrecht erzielen.

Die Haftstrafmaße zum Schutz der Bevölkerung vor Gewalttätern und die Investitionen in die Erforschung neuer Therapien sollten daher erhöht werden, schlug Roth vor.

Zu solch kühnen Thesen, in denen Moral und freie Entscheidungen keine Rolle mehr spielen, gelangen nur vereinzelte Neuroforscher. An ihre Disziplin aber, die nach neuronalen Regeln statt nach Freiheit, nach identischen Hirn-Mechanismen von Mensch und Tier statt nach Bewusstsein sucht, knüpft sich insgesamt das Versprechen, den Menschen künftig auf mechanistische Weise erklären und von Gebrechen befreien zu können.

"So sollen Elektrochips eines Tages in natürliches Nervengewebe implantiert werden, und künstliche Neurotransmitter sollen in die organischen Regelkreise psychischer Vorgänge steuernd eingreifen", sagt Leuschner. "Solches Ansinnen verlangt auch die Abschaffung der Psychologie."

Für den Philosophen Seubold ist es daher "nicht verwunderlich, dass heute selbst nach dem Gewissen neurobiologisch gesucht wird". Wenn der Mensch nicht mehr ist als neuronales Geschehen, warum sollten dann Mäuse keine Moral besitzen?

Mäuse leiden mit

Tatsächlich veröffentlichte der kanadische Psychologe Jeffrey Mogil in diesem Jahr eine Studie, die nahelegt, dass Mäuse auf den Schmerz vertrauter Artgenossen reagieren - eine Form von Empathie, die dem Moralforscher Joshua Greene zufolge auch beim Menschen moralische Entscheidungen mitbestimmt.

"Empathie ist wahrscheinlich eine jener genetisch codierten neuronalen Leistungen, die uns einfache moralische Entscheidungen sehr einfach treffen lässt, ohne Zuhilfenahme gelernter äußerer Einflüsse", sagt Greene. Das schließt er aus Hirnscans moralisch urteilender Testpersonen.

Lösen sie einfache moralische Probleme, etwa ob sie einen Menschen auf ein Gleis stoßen würden, um einen Zug zu stoppen, der auf fünf Gleisarbeiter zurast, sagen Probanden meist schnell Nein - ohne dass Hirnregionen aktiv würden, die mit begrifflichem Denken assoziiert werden.

Anders ist es bei abstrakteren, weniger empathischen Entscheidungen: ob sie im Stellwerk eine Weiche umlegen und dadurch einen einzelnen Arbeiter auf Gleis A für fünf Arbeiter auf Gleis B opfern würden?

Die meisten Probanden dachten länger nach und sagten mehrheitlich: Ja. "Unser Verstand ist ein Elefant mit einem faulen Reiter auf dem Rücken. Der Reiter ist für komplexe, langfristigere Planung zuständig, doch die meisten Entscheidungen trifft der Elefant", folgert Greene.

Das genetisch und hirnphysiologisch in Jahrmillionen geprägte Tier hat demnach mehr zu sagen als ein biografisch in wenigen Jahren gewachsener Mensch.

Eine andere Schlussfolgerung lassen bildgebende Verfahren nicht zu, da sie nur Momentaufnahmen regelhafter Entscheidungsprozesse zeigen können - nicht aber den individuellen biografischen Kontext, in dem ein Mensch entscheidet, sein Vorwissen, seine moralischen Ansichten. Diese naturwissenschaftliche Reduktion auf rein körperliche, regelhafte Vorgänge ist nach Ansicht des Arztes Santiago Ewig längst zum Problem aller Disziplinen geworden, die sich mit dem Menschen befassen.

Nicht nur Pädagogik, Psychologie, Moralphilosophie - auch die Medizin sei betroffen. "Vor allem psychosomatisch Kranke fallen heute durch die standardisierten Behandlungsraster einer Medizin, die gelernt hat, den Menschen als Maschine zu betrachten und ihn auch so zu reparieren", sagt Ewig.

Wie etwa solle ein Arzt noch biografische Ursachen, etwa eine Lebenskrise, hinter einem Symptom entdecken, wenn er lediglich gelernt hat, Symptome organspezifisch zu deuten und dazu angehalten ist, statistisch erfolgreiche Standards in Diagnose und Therapie anzuwenden? Statistisch erfolgreich sind nur wiederholbare Eingriffe in regelhafte Körperprozesse.

Was also, wenn sich Irreguläres, eine individuelle Krisensituation in körperlichen Beschwerden äußert? Das sei bei nahezu jeder Krankheit eine Mitursache, sagt Ewig. "Ich erinnere mich an Patienten, die 15-mal mit Brustschmerzen kamen und 15-mal mit negativem Ergebnis herzkathetert und wieder nach Hause geschickt wurden. Denn für individuelle Probleme fehlt die Struktur."

"Die Abschaffung des Arztes als Humanwissenschaftlers"

Er bedauert: "Die Psychosomatik hat an Universitäten keinen Anspruch mehr darauf, eine Grundlagendisziplin der Medizin zu sein. Und es ist lange her, dass ein Medizinstudium mit einem Philosophicum begonnen wurde. Eine Reflexion auf die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Theorie bleibt heute aus."

Die Konsequenzen für die medizinische Praxis sind verheerend: "Sie bedeuten die Abschaffung des Arztes als Humanwissenschaftler", sagt Ewig. Denn Mediziner würden zusehends zu Anwendern standardisierter und dadurch wirtschaftlich kalkulierbarer Therapiekonzepte, zu "Wirtschaftsbetriebs-Agenten".

Daraus resultiere die Unzufriedenheit vieler Ärzte, die sich ihrem Beruf entfremdet sehen. Daraus resultiere aber auch die Angst vieler Patienten, die ihr Lebensende in Patientenverfügungen regelten, weil sie sich sonst bloßer Technik ausgeliefert fühlen.

Schließlich lässt sich das Ende einer Körpermaschine technisch hinauszögern - weit über das frei bestimmte Leben hinaus. Und gilt der Geist als Körperfunktion, dann muss auch er in den kühnsten biotechnologischen Visionen eines Tages nicht mehr sterben: "Menschen werden ihr Gehirn in Zukunft retten können, indem sie es zum Beispiel Stück für Stück durch künstliche Intelligenz ersetzen", verspricht der Gründervater der Künstlichen Intelligenz, Marvin Minsky.

Damit wäre der Tod abgeschafft. Denn er ist keine Kategorie einer Maschinenexistenz.

"Aber auch menschliches Leben wäre damit abgeschafft. Darin liegt der Kategoriefehler all dieser naturwissenschaftlichen Mythen, die aus der Kenntnis isolierter Mechanismen abgeleitet werden", kritisiert der Bonner Philosophieprofessor Günter Seubold.

Der unsterbliche, unfreie Maschinen-Mensch sei daher"das Produkt eines Deutungsüberschusses einzelner Disziplinen", sagt Nida-Rümelin - was für die Philosophie eine Menge Arbeit bedeute: "Sie muss all diese hypertrophen weltanschaulichen Gebilde zurückführen auf ihre Ursprünge und sagen: Das eine ist eine physikalische Erkenntnis, jenes eine biologische und dieses ist moderne Neurophysiologie. Manche aber leiten daraus philosophische Implikationen ab, die auf sehr schwachen Füßen stehen."

Zumindest theoretisch ist das naturwissenschaftliche Menschenbild dadurch angreifbar.

Am runden Tisch des Humanprojekts setzen sich deshalb Biologen, Neurologen und Physiker mit dem Konzept vom bewusst und frei handelnden Menschen auseinander und versuchen, mit der philosophischen Konkurrenz "eine gemeinsame Sprache für das Selbstverständnis des Menschen zu finden", wie der Philosoph Volker Gerhardt sagt.

Die Arbeitsgruppe solle in den kommenden Jahren "eine über die Disziplinen hinausgehende Interpretation des Menschen" vorlegen, indem sie Geist und Hirnmaschine zu einem aufgeklärten Menschenbild zusammensetzt.

Eine mehrbändige Buchreihe ist geplant, in der unterschiedliche Disziplinen gemeinsam die entscheidenden Fragen beantworten sollen:

Wie funktioniert menschliches Bewusstsein? Wie kann der freie Geist in der streng regelhaften Natur existieren?

Es geht um Feinmechanik, und die heikelste Stelle für die theoretischen Konstrukteure ist die Verbindung zwischen Geist und Hirnphysiologie: Sind diese zwei Bestandteile des Menschen tatsächlich nur ein einziger, wie Neuroforscher annehmen? Zumindest eine Entsprechung zum bewussten Gedanken muss die Neuronenaktivität des Hirns darstellen, die durch bildgebende Verfahren sichtbar wird. Das beweisen Hirnscans.

"Dass unsere bewussten Vorgänge sich in neurophysiologischen Prozessen realisieren, sagt aber nicht zwingend, dass Bewusstsein mit diesen Prozessen identisch sein muss", eröffnet Nida-Rümelin die Diskussion.

Geht neuronale Aktivität dem bewussten Gedanken voraus? Oder lenkt das Bewusstsein die Prozesse im Gehirn? Wenn Neuronenaktivität und Bewusstsein nicht identisch sein müssen, stellt sich die Frage: Bringt eines das andere auf Trab? Tatsächlich sind im Ergebnis mancher Experimente bewusste Handlungen nur eine Folge neuronaler Prozesse. "Demnach können wir vorhersagen, dass jemand handeln wird, bevor er selbst es weiß", sagt der Bremer Hirnforscher Hans Flohr.

Dies sollten erstmals Ende der Siebzigerjahre die Experimente des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet belegen. Der hatte seine Testperson aufgefordert, in einem selbst gewählten Moment eine Hand zu bewegen und ihm den genauen Zeitpunkt der Entscheidung mitzuteilen. Elektroden am Kopf seiner Probandin verrieten Libet, dass die bewusste Entscheidung 0,35 Sekunden später fiel als der motorische Hirnbefehl an die Hand.

Das so genannte "Aktionspotenzial" ging der Entscheidung offenbar voran. Doch die Schlussfolgerung, das Hirn entscheide automatisch für den Menschen, lässt sich wiederum bestreiten. Denn auch das Gegenteil sei durch andere Experimente bereits belegt, sagt Flohr: dass nämlich bewusste Gedanken neuronale Aktivität auslösen.

Der Philosoph Nida-Rümelin sieht dadurch die Annahme bestätigt, Menschen steuerten neurophysiologische Prozesse durch bewusste Kontrolle. So habe sich zum Beispiel auch in der Praxis der bewusste Gedanke als Hirn-Steuermann bewährt - etwa bei dem querschnittsgelähmten, 26-jährigen Amerikaner Matthew Nagle, der seit zwei Jahren über implantierte Hirn-Elektroden mit Gedankenkraft Geräte bedienen kann.

Flohr hingegen folgert aus den gegensätzlichen experimentellen Befunden, dass sich bewusster Vorgang und Neuroprozess immer wechselseitig auf Trab bringen, sich also bedingen: "Geisteszustände sind immer Hirnzustände, also physikalische Zustände", sagt Flohr.

Gehorcht der Geist Naturgesetzen?

Sollte menschlicher Geist also nicht nur ein Resultat hirnphysiologischer Prozesse sein, sondern diese auch in Gang setzen können, bleibt die Frage: Können Gedanken und Entscheidungen dann frei sein? Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen, und nur ein physisches Phänomen kann andere physische Phänomene auslösen.

Jeder bewusste Gedanke und jede Entscheidung wären somit Teil eines naturgesetzlichen Automatismus und kausal determiniert. Von Freiheit ließe sich kaum sprechen.

Gegen diese Annahme ergreift der Würzburger Neurobiologe Martin Heisenberg das Wort: "Wir müssen einsehen, dass es Dinge gibt, die wir nicht kausal erklären können", mahnt er seine Fachkollegen. "Nur weil in der Naturwissenschaft Freiheit nicht vorkommt und Naturwissenschaft nach Regeln sucht, heißt das doch nicht, dass es keine Freiheit gibt. Längst hat die Physik gezeigt, dass in der Natur ständig Dinge ohne Grund passieren, dass es Zufälle gibt.

Seit der Quantenmechanik kann niemand mehr einen durchgängigen Determinismus behaupten."

Ist das Ich ein eigenes Wesen?

Sollte in Wahrheit menschlicher Geist die Zufälle im Gehirn lenken? Der Nobelpreisträger und Hirnforscher John Eccles hatte vor mehr als zehn Jahren dazu ein Gedankenmodell entworfen, nach dem immaterieller Geist auf nichtnatürliche Weise die Prozesse bestimmter Gruppen von Neuronen in der Hirnrinde beeinflusst. Doch einer Metaphysik, die das lenkende Bewusstsein außerhalb des naturgesetzlich Erklärbaren sucht, müssen Philosophen und Biologen misstrauen, wenn sie ihre Erkenntnisse gegenseitig ernst nehmen.

Und der Neurobiologe Giovanni Galizia von der Universität Konstanz stellt klar: Es gebe keine solche Ich-Region im Gehirn, wie Eccles sie angenommen hatte.

Das erkannte zuletzt der amerikanische Neuroforscher Todd Heatherton vom Dartmouth College in New Hampshire. Er hatte auf der Suche nach dem Ich im vergangenen Jahr mit bildgebenden Verfahren eine "Brodmann 10" genannte Hirnregion ausgemacht: Sie ist kein Sitz des Ich, sondern eine Schaltstelle, die Ich-relevante Daten verschiedener Hirnregionen miteinander vernetzt, wenn der Mensch über sich selbst nachdenkt.

"Wir müssen einsehen: Das Ich, unser Selbst, ist kein Homunkulus", sagt Galizia. "Es ist so stark mit dem neuronalen Gesamtsystem vernetzt, mit Gefühlen, mit Hunger oder schlechter Laune, dass man nichts vonei- nander trennen kann." Dennoch fühlt sich das Ich wie eine Entität an, eine feste Einheit, mein Wesen, das über mich Bescheid weiß.

Ist dieses bewusste Ich im Hier und Jetzt lediglich ein trügerisches Gefühl?

Diesen Verdacht erhärten Beobachtungen zum Zeitgefühl, das mit der Selbstwahrnehmung verbunden ist. Danach entspricht ein Ich im Hier und Jetzt nicht der fortlaufenden neuronalen Hirnaktivität: "So wie das Ich keinen besonderen Sitz im Gehirn hat, sondern sich in einem Netzwerk organisiert, so hat es auch keinen fixen Zeitpunkt.

Das Jetzt des Ichs ist in Wirklichkeit ein Prozess", sagt Galizia, der dies an Experimenten aus der Sprachforschung belegt. Hört ein Vorleser seine Stimme über Kopfhörer um 200 Millisekunden zeitversetzt, bringt das einen Hirnprozess durcheinander, der für das Bewusstsein ein einziger Zeitpunkt zu sein scheint.

Der Lesefluss wird langsamer, der Leser kommt ins Stottern. Galizia erklärt: "In Wirklichkeit gelangt die optische Information der Buchstaben zuerst in den Thalamus, dann in den visuellen Kortex; das dauert mehr als 40 Millisekunden. Dann werden die Bilder in zwei parallel verlaufenden Kaskaden im Gehirn verarbeitet. Schließlich formen die Sprachzentren die Wörter." Das ausgesprochene Wort wiederum werde vom Ohr wahrgenommen, und wieder finde eine Kaskade neuronaler Ereignisse statt.

"Die Information vom akustischen System, die identisch sein muss mit der aus dem optischen System, kommt in Wirklichkeit später in gemeinsamen Gehirnarealen an. Doch unser bewusster Eindruck ist, dass alles gleichzeitig stattfindet." Stört man diesen Eindruck, bringt die Dauer der neuronalen Ereignisse das im Hier und Jetzt handelnde Ich durcheinander.

Erlauben die begrifflichen Gegensätze von Freiheit und Kausalität, von Bewusstsein und neuronaler Aktivität überhaupt, die richtigen Fragen zu stellen?

Begreift man das Ich und seine Freiheit als solch einen permanenten Prozess, lassen sich die Widersprüche zwischen menschlichem Geist und Hirnmaschine aber auch auflösen. Hier sehen Philosophen und Naturwissenschaftler im Humanprojekt die Basis für ein gemeinsames Menschenbild: im Modell eines sich ständig entwickelnden Ichs, das keine zeitlich und örtlich fixierbare Einheit darstellt.

Dies ist ein entscheidender Schritt zum Ziel der Arbeitsgruppe: "Philosophisch ließe sich das Ich heute durchaus als eine Art Integrationsleistung beschreiben", sagt der Philosoph Norbert Meuter von der Humboldt-Universität Berlin. Alle Sinneseindrücke und Erlebnisse mache es sich zu eigen und entwickle sich permanent weiter.

"Das setzt nicht mehr die Vorstellung einer steuernden Ich-Region voraus. Man ist eher geneigt, ein selbstorganisierendes System anzunehmen." Damit bestünde menschlicher Geist in einer komplexen hirnphysiologischen Leistung: Kein metaphysisches Wesen nähme demnach die zusammenhanglosen Eindrücke des Alltags in den eigenen Kontext auf, sondern ein permanent lernendes, selbstorganisierendes System mit unendlich vielen Freiheitsgraden. Es integriert, neurologisch gesprochen, neue Eindrücke, indem es neue Nervenverbindungen bildet und alte aus- oder abbaut. Philosophisch und psychoanalytisch gesprochen verwandelt es dabei Zufälle in den Sinn der biografischen Geschichte.

Und weil es hochgradig selbstreferenziell arbeitet, lässt es sowohl individuelle Entwicklungen zu als auch deren Korrektur: "Wer etwa gefangen ist in neurotischen Mustern, kann sich ändern, wenn er sich darüber klar wird. In solchen Selbstbewusstwerdungs-Vorgängen liegt unsere Freiheit begründet", sagt Meuter.

Diese komplexere Form von Freiheit besteht demnach aus einem Bewusstseinsprozess, dessen lernende Veränderung nie abreißt. In experimentellen Handlungsalternativen zu einem fixen Zeitpunkt lässt sich solche Freiheit nicht feststellen. "Deshalb hat mit den Neurowissenschaften bislang noch keine gehaltvolle Diskussion über die Freiheitsfrage stattgefunden", sagt Meuter.

Denn was sollten Momentaufnahmen sich entscheidender Hirne mehr zeigen als winzige Ausschnitte jeder Biografie, die beschränkt sind auf ein neuronales Geschehen und dessen kausale Gesetzmäßigkeiten? "Da sind der Biologie methodische Grenzen gesetzt", bestätigt Giovanni Galizia.

Dass der Wille durch Kausalitätsgesetze determiniert sei, ist somit ein Fehlschluss. Wer das behauptet, hält den Ausschnitt, den er beobachten kann, für den ganzen Menschen. Und wer das Ich zur Illusion erklärt, hält winzige Ausschnitte eines komplexen Geschehens für entscheidender als dessen Resultat: den sich selbst und seiner Handlungen bewussten Menschen.

"Deshalb ist es Hybris, wenn sich Neurobiologen anmaßen, dem Menschen die Freiheit abzusprechen. Dann haben sie vergessen, wo die Grenzen ihrer Wissenschaft liegen", sagt Heisenberg.

Der Psychoanalytiker Wolfgang Leuschner kritisiert: "Solche Neuroforscher verletzen Kausalitätsgesetze wie jemand, der die Musik eines Orchesters durch die physikalischen

Eigenschaften der Instrumente ursächlich erklären wollte und nicht durch die Vorgaben des Komponisten." Zwar dürfen die physikalischen Eigenschaften der Instrumente nicht in Widerspruch stehen zum konzertanten Ergebnis. Doch was verrät ihre Kenntnis über das Konzert? So viel wie die Kenntnis neuronaler Prozesse über den Menschen: "Selbst wenn wir über jedes Detail der neuronalen Aktivität in einem Hirn Bescheid wüssten, könnten wir nicht fühlen, wie sich das darin realisierte Ich fühlt", sagt Nida-Rümelin.

Der Anspruch, den ganzen Menschen erklären zu können, wäre den Naturwissenschaften damit abgesprochen. Und die Interpretation des freien Geistes nähme wieder ihren Platz in den Wissenschaften ein. Wie sollte Naturwissenschaft diesen Geist auch je in wiederholbaren Versuchen fixieren?

Galizia findet dafür ein Bild: "Wir könnten keinen Michelangelo darum bitten, die Sixtinische Kapelle ein zweites Mal auszumalen, um zu wissen, ob er sie auch anders hätte ausmalen können." Solcher Geist lässt sich nicht fotografieren und in die Tasche stecken.

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