Der britische Pharmariese GlaxoSmithKline (GSK) will offenbar 460 Millionen Dollar zahlen, um Klagen von einigen tausend Menschen beizulegen. Die Kläger werfen dem Unternehmen vor, sein Diabetesmedikament Avandia (Rosiglitazon) könne Herzanfälle auslösen.
Schon seit einigen Jahren gibt es Hinweise darauf, dass der Blutzuckersenker, der seit 1998 auf dem Markt ist, das Risiko von Herzleiden erhöht. Nun will die amerikanische Zulassungsbehörde für Medikamente, die FDA, darüber entscheiden, ob das Medikament deshalb vom Markt genommen werden sollte.
In der Diskussion ist das Mittel bereits seit 2007. Doch jetzt, kurz vor der Entscheidung der FDA, zitiert die New York Times aus Dokumenten, die zeigen: In dem Pharmaunternehmen kannte man bereits seit 1999 die Risiken. Sie wurden aber bewusst verheimlicht.
Wie die Zeitung berichtet, habe zum Beispiel eine der Führungskräfte des Unternehmens, Martin Freed, in einer E-Mail im März 2001 festgestellt: "Auf Bitten des Sr. Mgmt ( Führungsstab, d. Red.) sollten diese Daten das Tageslicht außerhalb von GSK nicht sehen."
Aus einem anderen Dokument zitiert die US-Zeitung, dass man sich in dem Konzern sorgte, ein Bekanntwerden des Herzrisikos würde zu Einbußen von 600 Millionen Dollar allein in den Jahren 2002 bis 2004 führen. Mary Anne Rhyne, Sprecherin von GSK, erklärte der NYT dagegen, die Firma hätte die Ergebnisse ihrer Studie von 1999 nicht bereitgestellt, weil "sie keine signifikant neuen Informationen beisteuerte".
Erst seit 2007 sind die Risiken öffentlich bekannt
Erst 2007 hatten die unabhängigen Kardiologen Steven Nissen und Kathy Wolski von der Cleveland Clinic insgesamt 42 Studien zu Avandia zusammengefasst, deren Ergebnisse in Fachzeitschriften, auf der Internetseite der FDA und des Unternehmens GSK veröffentlicht worden waren. Wie sie im Fachblatt New England Journal of Medicine berichteten, war das Herzinfarktrisiko und das Risiko, an Herzproblemen zu sterben, bei einer Einnahme von Avandia deutlich erhöht.
GlaxoSmithKline selbst hatte zwar bereits zwei Jahre zuvor der Regierungsbehörde FDA gegenüber zugegeben, dass das Mittel zu Herzkomplikationen führen könne. Doch weder das Unternehmen noch die Behörde hatten daraus Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil: Nachdem Nissen und Wolski ihre kritische Studie veröffentlicht hatten, stellten Mediziner um Philip Homes von der britischen University of Newcastle-upon-Tyne Daten aus der von GSK finanzierten sogenannten Record-Studie vor. Die "vorläufigen" Daten der Studie, die ebenfalls im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurden, sprachen gegen ein höheres Risiko durch Avandia "im Vergleich zur Standardtherapie".
Trotzdem wies die FDA den Pharmakonzern an, das Medikament mit einem deutlichen Warnhinweis auf Herzinfarkt-Risiken zu versehen. Vom Markt nehmen wollte man das Mittel jedoch nicht. 2009 veröffentlichte das Fachmagazin Lancet dann erneut Ergebnisse aus der Record-Studie. Die Daten führten Studienautor Homes wieder zu dem Schluss, dass Avandia im Vergleich zu anderen gängigen Diabetesmedikamenten das Risiko für Herzkrankheiten oder Herztod nicht erhöhe.
Noch Anfang 2010 hatte GSK deshalb beteuert, das Medikament sei ausführlich erforscht worden und die wissenschaftlichen Beweise zeigten kein erhöhtes Herzinfarkt-Risiko. Doch die FDA-Experten David Graham und Dr. Kate Gelperin kamen zeitgleich zu einem ganz anderen Schluss. "Wenn jeder Diabetiker, der jetzt Avandia nimmt, stattdessen eine Pille namens Actos bekäme, könnten etwa 500 Herzanfälle und 300 Fälle von Herzversagen jeden Monat verhindert werden, da Avandia das Herz schädigen kann", zitierte die NYT aus internen FDA-Berichten. Avandia, so die Forderung der Experten, solle vom Markt genommen werden.
Die Aussagekraft der Record-Studie des Konzerns wird in der FDA inzwischen heftig bezweifelt. So geht aus einer eigenen Analyse durch FDA-Experten um Thomas Marciniak hervor, dass es eine Reihe von Mängeln und Fehlern unter anderem im Studiendesign gegeben hat, berichtet das Newsportal der Organisation amerikanischer Wissenschaftler, AAAS.
Darüber hinaus habe das Unternehmen in mindestens einem Fall versucht, selbst Einfluss auf die Record-Studie zu nehmen. Ob dies ein Einzelfall oder die Regel war, könne man nicht feststellen, erklärte Marciniak. Ähnliche Vorwürfe erhoben kürzlich die New Yorker Wissenschaftler Jeffrey Drazen und Alastair Wood im New England Journal of Medicine. Philip Homes, Hauptautor der Record-Studie, widersprach umgehend: Diese Information sei falsch.
Steven Nissen hat unterdessen seine Analyse erweitert. Im Fachblatt Archives of Internal Medicine stellte er Ende Juni die Auswertung von nun insgesamt 56 Studien vor - darunter auch die Record-Studie. Erneut war das Risiko für Herzinfarkte bei der Gabe von Avandia signifikant erhöht.
Zeitgleich veröffentlichte FDA-Experte Graham eine eigene Studie im Journal of the American Medical Association, derzufolge das Mittel bei älteren Menschen das Risiko für Schlaganfall, Herzschwäche und unklare Todesfälle erhöht.
Doch trotz aller Kritik an dem Medikament, der Record-Studie und GlaxoSmithKline - die FDA ist in Sachen Avandia tief gespalten. Das spiegelt sich auch in den Stellungnahmen der FDA-Experten vor dem Beratungskomitee wider, das derzeit darüber diskutiert, ob Avandia die Zulassung verlieren sollte. Fünf der FDA-Fachleute sprachen dem Mittel ihr Vertrauen aus, wie die NYT berichtet.
So gibt es nach Einschätzung des stellvertretenden Leiters der Arzneimittelabteilung der FDA, Ellis Unger, trotz der Kritik an der Record-Studie dort keinen Hinweis darauf, dass das Mittel das Risiko für einen Herzinfarktrisiko erhöht. Allerdings zweifelte selbst er daran, ob man dem "Sponsor" - also GSK - noch trauen könne.
Mit seinem Vorgehen hat das Unternehmen auch bei einigen Kongressmitgliedern Wut ausgelöst. "Wenn Pharmafirmen Daten zur Sicherheit ihrer Medikamente zurückhalten, setzen sie die Patienten einem Risiko aus", schimpfte Senator Max Baucus, der sich bereits seit Jahren mit dem "Fall" Avandia beschäftigt.
Kein Einzelfall
Auch die europäische Arzneimittelbehörde EMA überprüft derzeit die Sicherheit des Mittels erneut. In Deutschland hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) Avandia kürzlich zusammen mit einem ähnlichen Wirkstoff aus der Erstattung durch die gesetzlichen Krankenkassen genommen.
Bereits in der Vergangenheit war GlaxoSmithKline wegen der Verheimlichung von Daten in die Schlagzeilen gekommen. 2004 war herausgekommen, dass das Unternehmen Hinweise verheimlicht hatte, denen zufolge das Antidepressivum Paxil (Paroxetin) das Risiko von Suizidgedanken und -versuchen bei Kindern und Jugendlichen erhöhte. Das Unternehmen hatte eine Klage abwenden können mit dem Versprechen, Daten aller Studien zu veröffentlichen. Viele Experten sind allerdings mit der Form der Darstellung der Daten nicht zufrieden.
Die Kritik betrifft nicht nur GlaxoSmithKline. Das belegt etwa ein kürzlich vom deutschen Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vorgelegter Bericht. Wie die Experten im Fachmagazin Trials schreiben, ist der Umgang der Pharmaunternehmen - aber auch der Universitäten - mit ihren Studiendaten noch immer alles andere als zufriedenstellend.
Zum Beispiel habe eine Analyse von 90 neu in den USA zugelassenen Medikamenten gezeigt, dass diese in insgesamt 900 Studien erprobt worden waren - allerdings waren auch fünf Jahre nach der Zulassung 60 Prozent dieser Studien noch immer nicht veröffentlicht
So hatte das US-Unternehmen Pfizer sich geweigert, dem IQWiG Studien zu dem Antidepressivum Reboxetin (Edronax) zur Verfügung zu stellen. Knapp zwei Drittel aller in den Studien erhobenen Daten waren "unter Verschluss gehalten worden", kritisiert das Institut. Erst auf öffentlichen Druck hin gab der Konzern im vergangenen Jahr diese Daten heraus. Mit deutlichen Konsequenzen: Eine "Zusammenfassung der Ergebnisse der veröffentlichten und nicht veröffentlichten Studien belegt keinen Nutzen von Reboxetin, während die Daten aus den veröffentlichten Studien einen Nutzen suggerieren."
Das Urteil der Fachleute ist eindeutig: "Über viele Jahre wurden Patientinnen und Patienten, aber auch Ärztinnen und Ärzte getäuscht", erklärte Beate Wieseler, Expertin für die Arzneimittelbewertung am IQWiG.