Süddeutsche Zeitung

Personalisierte Medizin:Die Mogelpackung

Personalisierte Medizin - das klingt nach einem intensiven Arzt-Patienten-Verhältnis, geprägt von Respekt und Verständnis. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es geht um eine PR-Strategie von Pharmaindustrie und interessierten Wissenschaftlern.

Werner Bartens

Für Patienten klingt es nach einer guten Nachricht. Endlich wollen sich die Ärzte wieder stärker den Kranken zuwenden, deren Ängste und Nöte beachten, sich empathisch zeigen und das individuelle Umfeld vermehrt berücksichtigen.

Patienten beklagen sich schließlich darüber, dass ihre familiäre und soziale Situation, berufliche Belastungen und andere Eigenheiten des Alltags zu wenig in Diagnosefindung und Behandlung einbezogen werden.

Wie sonst sollte der Begriff "personalisierte Medizin" auch verstanden werden, wenn nicht als längst nötige Besinnung der Medizin auf den wahren Kern der Heilkunde - ein intensives Arzt-Patienten-Verhältnis, das von Respekt und Verständnis geprägt ist?

Das Gegenteil ist der Fall", schimpfen kanadische Ärzte um George Browman im Canadian Medical Association Journal (online) vom heutigen Dienstag. "Es geht bei der personalisierten Medizin um hochtechnisierte Forschung, um Gene, Proteine und den Zellstoffwechsel. Hier werden Patienten in die Irre geführt und die Konfusion, die durch den Begriff entsteht, bringt weitere Nebenwirkungen mit sich."

Denn darunter würden die meisten Laien eine patientenzentrierte Behandlung verstehen, in der es um die verbesserte Kommunikation zwischen Arzt und Patient geht oder um Wege der Krankheitsverarbeitung.

Tatsächlich versteckt sich hinter der Floskel von der personalisierten Medizin eine PR-Strategie von Pharmaindustrie und interessierten Wissenschaftlern. Die Arzneimittelhersteller haben schon seit Jahren keinen Blockbuster mehr auf den Markt gebracht. Die Zahl der jährlichen Medikamentenzulassungen hat sich seit den 1990er Jahren fast halbiert.

Viele angeblich neue Präparate sind Nachahmungen oder Variationen des Bekannten. Ärzten dürfte es schwer fallen, zehn neue Medikamente zu nennen, die in den vergangenen zehn Jahren entwickelt worden sind, auf die sie nur schweren Herzens verzichten könnten.

Die Marketingabteilungen der Pharmaunternehmen versprechen dennoch maßgeschneiderte Mittel für eine personalisierte Medizin der Zukunft, die sich hauptsächlich aus der Entschlüsselung des Genoms speist und neue Medikamente verspricht, die auf molekulare Ziele gerichtet sind.

Für Browman werden mit dem Loblied auf die personalisierte Medizin falsche Erwartungen geweckt. "Wir sollten nicht damit rechnen, dass die großen Volksleiden bald besiegt werden", sagt er. "Dazu ist das Wechselspiel zwischen Genen, Proteinen, dem Stoffwechsel und Myriaden von Umwelteinflüssen viel zu komplex."

Für Wolf-Dieter Ludwig, den Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, sind die Versprechungen schlicht "Science-Fiction". Vieles, was unter dem Begriff personalisierte Medizin verhandelt und angepriesen wird, "klingt zwar attraktiv, ist aber wenig oder gar nicht belegt".

Die Firmen haben ihre Strategie gewechselt: vom Blockbuster zum Nichebuster. Die Politik erleichtert der Pharmaindustrie diesen Schwenk mit dem AMNOG, einem Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes, das seit Januar 2011 in Kraft ist. Nach der neuen Regelung sind Medikamente gegen seltene Erkrankungen von der für die Patienten so wichtigen Nutzenbewertung ausgenommen. Die Hersteller können die millionenteure Entwicklung neuer Mittel früher beenden, etliche Tests und Vergleichsstudien entfallen. Ein Medikament wird zugelassen, ohne dass klar ist, ob die Patienten etwas davon haben.

Damit unter dem Schlagwort personalisierte Medizin jedes Mittel zum Medikament gegen seltene Erkrankungen werden kann, werden neue Untereinheiten von Krankheiten definiert. PR-Kampagnen begleiten die Neuorientierung. Fast wöchentlich wird zu einer Konferenz über seltene Leiden oder individualisierte Therapie geladen. Mit Fotoausstellungen über seltene Leiden werden Laien auf das Thema aufmerksam gemacht.

Der Nutzen für Kranken ist oft nicht gegeben. In der Krebsmedizin würden jedes Jahr neue Arzneimittel angepriesen, von denen nur ein Bruchteil der Kranken profitiere, sagt Wolf-Dieter Ludwig. Von den etwa zwei Dutzend Mitteln mit neuen Wirkstoffen, die im Jahr 2010 in Deutschland auf den Markt gebracht wurden, war nur ein Viertel von therapeutischer Relevanz und wurde als womöglich hilfreich eingestuft.

Für Browman und seine Mitstreiter sind die Übertreibungen und Missverständnisse unter dem Etikett der personalisierten Medizin nicht nur ärgerlich, sondern sogar schädlich. "Wir sollten keine Zeit damit verschwenden, die personalisierte Medizin als wissenschaftliches Etikett zu etablieren", fordern die Ärzte. "Hinter einer Medizin, bei der sich tatsächlich die Menschen im Mittelpunkt befinden, steht zwar nicht die Mystik der Gene, aber dafür können wir das verändern, was die Patienten erleben und durchmachen - und was wirklich für sie wichtig ist."

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Quelle:
SZ vom 19.07.2011/mcs
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