Peinlicher Fehler des Weltklimarats:Schmelzendes Vertrauen

2035 würden die Himalaya-Gletscher abgeschmolzen sein, warnte der Weltklimarat. Die Prognose fußt womöglich auf einem Zahlendreher - auf keinen Fall aber auf seriöser Wissenschaft.

Christopher Schrader

Der gestrige Mittwoch hat für Ottmar Edenhofer früh begonnen. Von sechs Uhr morgens an diskutierte er zwei Stunden lang in einer Telefonkonferenz mit der Führungsspitze des Weltklimarates IPCC. Edenhofer, im Hauptberuf Abteilungsleiter am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, leitet seit 2008 eine der drei Arbeitsgruppen des IPCC. Bei dem Gespräch im Morgengrauen galt es, einen überaus peinlichen Fehler zu besprechen, der im 2007 veröffentlichen jüngsten Bericht des Weltklimarats steht. Dort heißt es, die Gletscher des Himalaya würden mit großer Wahrscheinlichkeit bis zum Jahr 2035 abschmelzen. "Es hätte auffallen müssen, dass das keine sinnvolle Angabe ist", sagt Edenhofer.

Himalaya, AFP

Die Prognose war voreilig. Der Himalaya wird seine Gletscher wohl noch einige Zeit behalten.

(Foto: Foto: AFP)

Tatsächlich haben die IPCC-Autoren für diese Gletscherprognose keine wissenschaftliche Studie, sondern einen Bericht der Umweltorganisation WWF zitiert. Solche Quellen heißen in der Wissenschaft graue Literatur; die Regeln des IPCC lassen deren Verwendung zu, wenn sie "kritisch geprüft" werden. Offenbar ist das unterblieben, sonst hätten die IPCC-Autoren die Originalquellen aufspüren müssen: Das ist vor allem ein kurzer Beitrag des britischen Wissenschaftsmagazins New Scientist aus dem Jahr 1999. Darin zitiert der New Scientist den Hautautor einer Kommission, die kurz davor stand, einen Bericht über die Gletscher des Himalaya zu veröffentlichen.

Diesen Bericht hätten die IPCC-Autoren im Original besorgen müssen, als sie die Jahresangabe 2035 im Kapitel 10 der Arbeitsgruppe 2 des IPCC-Berichts von 2007 aufnahmen. Wenn sie der Spur der darin genannten Quellen bis zu ihrem Ursprung gefolgt wären, hätten sie vielleicht rechtzeitig erkannt und vermieden, was sich jetzt als Peinlichkeit herausstellt: Dort stand offenbar gar keine Jahreszahl.

Peter Lemke vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven, ebenfalls führender IPCC-Autor, hat eine mögliche Erklärung für die mysteriöse Jahreszahl: Vor vielen Jahren habe ein russischer Forscher einmal geschätzt, die Himalaya-Gletscher könnten im Jahre 2350 verschwunden sein. Womöglich passierte irgendwo ein Zahlendreher, aus 2350 wurde 2035 - und danach schrieb einer vom anderen ab.

Der immerhin mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete IPCC versucht nun, den Imageschaden zu beheben. Das Ergebnis von Edenhofers Telefonkonferenz war ein offizielles Statement des IPCC, das am Mittag veröffentlicht wurde. Darin "bedauert" die Spitze des Weltklimarats, dass "die bekannten Regeln des IPCC in diesem Fall nur schlecht angewandt wurden".

Allerdings folgt dieses Eingeständnis einem langem Absatz über die Veränderungen im Wasserhaushalt am Fuß von Bergketten wie den Anden und dem Himalaya. Die Versorgung von mehr als einem Sechstel der Menschheit werde sich im Lauf des 21. Jahrhunderts verschlechtern. "Diese Schlussfolgerung ist robust, angemessen und steht im Einklang mit der zugrundeliegenden Wissenschaft", heißt es abschließend.

Ottmar Edenhofer setzt die Akzente anders: Er räumt den Fehler unumwunden ein, kündigt Konsequenzen für die IPCC-Arbeit an und betont aber auch, dass die Warnung vor dem Gletscherverlust bis 2035 nicht "zu den zentralen Aussagen des IPCC gehört hat". Tatsächlich stand sie nicht in den Zusammenfassungen für politische Entscheidungsträger oder dem Synthese-Report, den der IPCC aus den ausführlichen Berichten seiner drei Arbeitsgruppen erstellt hat.

"Jetzt wird wieder verallgemeinert"

Edenhofers Offenheit ist die passendere Reaktion als die kantige Erklärung des Weltklimarats, der erst beharrt und dann gesteht. Die Zeitangabe 2035 ist spätestens seit einem Bericht der BBC im Dezember 2009 in der Kritik. Die Presse hat dafür Worte wie "Übertreibung", "Schlamperei" und "Täuschung" gefunden; im Internet haben Kritiker die Affäre als einen weiteren Beleg für eine Verschwörung der Klimaforschung verbucht. "Man kann niemandem übelnehmen, wenn er gegenüber dem IPCC nun misstrauischer wird", sagt Hans von Storch, der am GKSS-Forschungszentrum in Geesthacht die Klimaforschung kritisch verfolgt. "Ich glaube aber nicht, dass solche skandalösen Vorgänge beim IPCC häufig vorkommen, besonders nicht in der Arbeitsgruppe1." Letztere ist für die "harte" Physik des Planeten zuständig.

Doch der Fehler trifft auch diese Experten: "Es schlägt uns auf den Magen", sagt Peter Lemke. Er war einer der beiden führenden Autoren für das Kapitel über Schnee und Eis im Bericht der Arbeitsgruppe 1 des IPCC. Ein Digramm auf Seite 359 in dem von Lemke verantworteten Kapitel des IPCC-Berichts zeigt sogar, dass die Gletscher des Himalaya zwar abschmelzen, aber deutlich langsamer als jene in Patagonien oder Alaska. Das hätte die Autoren, die anderswo die Jahreszahl 2035 stehen ließen, warnen müssen.

"Jetzt wird das wieder verallgemeinert", klagt Peter Lemke. "Sehen Sie, die Berichte haben mehr als 2000 Seiten, auf jeder davon stehen vielleicht 100 Aussagen. Nun stellt sich heraus, dass eine davon nicht gut recherchiert war. Deswegen ist aber doch nicht der ganze Rest falsch."

Tatsächlich aber hat sich der IPCC immer zu Gute gehalten, und seine Autorität daraus gewonnen, dass er die begutachtete wissenschaftliche Literatur auswertet. Und dann fließen Angaben einer Umweltorganisation wie dem WWF, der bei all seinem Renommee auch von Interessen geleitet ist, ungefiltert in einen Bericht des Weltklimarats. "Manchmal sind Themen noch nicht in der sogenannte peer-reviewten Literatur vertreten", rechtfertigt Ottmar Edenhofer die Verwendung grauer Literatur. "Aber die Regeln sind eindeutig. Solche Berichte dürfen begutachtete Studien weder ersetzen noch gar verdrängen." Es sei weiterhin der Anspruch des IPCC, die gesamte wissenschaftliche Diskussion auszuwerten. Die Richtlinien würden nun noch einmal verschärft und die Kooperation der Arbeitsgruppen über Themen, die beide betreffen, verstärkt.

Währenddessen zeigen die Beteiligten mit dem Finger aufeinander. Der Kronzeuge des New Scientist-Artikels von 1999, der indische Gletscherforscher Syed Iqbal Hasnain, hat jetzt im Gespräch mit dem gleichen Magazin eingeräumt, die Jahreszahl 2035 sei eine "Spekulation" gewesen. Er habe sie in keinem seiner Forschungspapiere genannt. Der Autor in dem Magazin habe dann, entgegen seiner jetzigen Darstellung, die Zahl in Zusammenhang mit dem über vier Jahre erstellten Bericht der Kommission gebracht, die Hasnain damals leitete. Erst dadurch wurde die Spekulation offenbar für den WWF und dann für den IPCC interessant. Dennoch weist Murari Lal, der das IPCC-Kapitel mit dem Fehler verantwortet, seinem Landsmann Hasnain die gesamte Schuld zu.

Offenbar haben alle Beteiligten eine wichtige Lektion ihres jeweiligen Handwerks vergessen. Eigentlich lernen Studenten wie Journalisten am Anfang ihrer Ausbildung, zur Originalquelle zurückzugehen.

Hintergrund

Der Weltklimarat (IPCC) ist ein von der UNO eingesetztes Gremium von Wissenschaftlern. Er erstellt alle fünf bis sieben Jahre einen Bericht über den Stand der Klimaforschung. Darin nimmt er die gesamte begutachtete Literatur über die einzelnen Aspekte auf. Hinzu kommt sogenannte graue Literatur: nicht-begutachtete oder nicht offiziell veröffentlichte Studien sowie Berichte von Organisationen wie der Weltbank, Umwelt- oder Hilfsorganisationen und auch Firmen, wenn es um zum Beispiel um neue Technologie geht.

Der IPCC hat drei Arbeitsgruppen. Die erste befasst sich mit der physikalischen Basis des Klimawandels. Die zweite untersucht dessen Folgen auf Natur und Gesellschaft und sucht nach Möglichkeiten, wie sich die Länder an die Veränderungen anpassen können. Die dritte schließlich analysiert, mit welchen Maßnahmen sich die Veränderungen verhindern ließen und was das kostete. Der Fehler beim Thema Himalaya-Gletscher stand 2007 im Teilbericht der Arbeitsgruppe 2.

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