Paläopathologie:Das Geheimnis der Skelette

Paläopathologie: Den Pfeilschuss in den linken Oberkiefer hat ein Mann aus dem chinesischen Liushui nicht überlebt.

Den Pfeilschuss in den linken Oberkiefer hat ein Mann aus dem chinesischen Liushui nicht überlebt.

(Foto: Gebhard Bieg, Michael Schultz)

Rückenschmerzen, Tuberkulose, eine tödliche Schwangerschaft: An Mumien und Knochen erkennen Paläopathologen, welche Krankheiten die Menschheit einst plagten.

Von Esther Widmann

Er hatte immer genug zu essen, aber ein leichtes Leben war es nicht. Schon als Kind war er zweimal ernsthaft krank gewesen, außerdem bereitete ihm eine angeborene Wirbelsäulen-Missbildung Schmerzen. Als Erwachsener brach er sich mehrere Rippen, verrenkte sich das Hüftgelenk, zog sich an beiden Füßen Gelenkkapselrisse und Bänderzerrungen zu und erkrankte an einer Kopfschwartenentzündung. Die Zähne: chronisch schlecht. Mit zunehmendem Alter machte auch das Atmen Mühe, weil durch die Forestier'sche Krankheit der Rippenknorpel verknöcherte. In den letzten Lebensjahren plagten den Mann Krampfadern und Arthrose, bis er starb.

Es sind keine Krankenakten, die von diesem Schicksal berichten. Der Mann aus Ägypten ist seit 4300 Jahren tot. Was von seinem Körper übrig ist, erzählt aber nicht nur von seinem Tod, sondern auch von seinem Leben. Das herauszufinden, ist das Ziel von Wissenschaftlern, deren Spezialgebiet die Paläopathologie ist, die Erforschung alter Krankheiten.

Lange Zeit war die einzige Möglichkeit, etwas über die Gesundheit verstorbener Menschen herauszufinden, die Untersuchung des Skeletts auf makroskopisch erkennbare Verletzungen. Das Problem dabei ist nicht nur, dass nur wenige Krankheiten solche Spuren an den Knochen hinterlassen. Selbst wenn, tun sie das auch erst nach einer gewissen Zeit. Am Skelett lässt sich somit nicht unterscheiden, ob jemand die Krankheit überhaupt nicht hatte oder ob er innerhalb kurzer Zeit an ihr gestorben ist.

Tuberkulose-Bakterien im Bison

1993 versprach eine neue Technik eine Zeitenwende: Es gelang erstmals, in einem Skelett die DNA eines Krankheitserregers nachzuweisen, und zwar des Tuberkel-Bazillus. Wegen seiner wasserabweisenden Zellwände ist Mycobacterium tuberculosis besonders stabil und oft gut erhalten. Schon mit einer der ersten Studien zu diesem Thema wurde die Kolonialgeschichte umgeschrieben: Der Nachweis der DNA von M. tuberculosis in einer peruanischen Mumie aus präkolumbianischer Zeit rehabilitierte 1994 die Eroberer zumindest von dem Vorwurf, diese Krankheit nach Südamerika eingeschleppt zu haben.

Paläopathologie: In den Knochen einer Frau aus dem byzantinischen Troja fanden Wissenschaftler das Erbgut eines Bakteriums, das heute nur noch Tiere infiziert.

In den Knochen einer Frau aus dem byzantinischen Troja fanden Wissenschaftler das Erbgut eines Bakteriums, das heute nur noch Tiere infiziert.

(Foto: Gebhard Bieg, Michael Schultz)

Auch die Evolution von Erregern lässt sich mithilfe der DNA-Analyse nachzeichnen. Kürzlich untersuchten Spezialisten der Universitäten Tübingen und Madison das Skelett einer Frau aus dem byzantinischen Troja, die im 13. Jahrhundert nach Christus gestorben war, vermutlich während der Schwangerschaft. In einem Knochen fanden sich die DNA von Staphylokokken und Hinweise auf eine maternale Sepsis, eine bakterielle Infektion der Plazenta und der Membranen, die den Fötus umgeben. Der Staphylokokken-Stamm aber, den die Frau in sich trug, infiziert heute nur noch Tiere.

Oder: Das Bakterium M. tuberculosis, das Tuberkulose im Menschen erregt, ließ sich in den Knochen pleistozäner Bisons in den USA (etwa 17 000 vor heute) nachweisen. Das stellt die lange akzeptierte Theorie infrage, nach der der Erreger von boviner Tb, M. bovis, nach der Domestizierung des Viehs auf den Menschen übersprang und sich zu M. tuberculosis weiterentwickelte.

Seit 1993 haben Wissenschaftler die DNA zahlreicher Erreger in Knochen, Gewebe und versteinertem Kot aus den vergangenen Jahrtausenden gefunden: Lepra, Beulenpest, Spanische Grippe, Hepatitis B, Malaria, Leishmaniose und Chagas-Krankheit sowie die Parasiten Spulwurm und Madenwurm. "Die DNA ermöglicht es uns, die Präsenz der Krankheit in der Bevölkerung nachzuweisen", sagt Charlotte Roberts, die an der University of Durham in England Paläopathologie lehrt. Was das Erbgut jedoch nicht verrät: ob das Individuum, das den Erreger in sich trug und auf andere Menschen übertragen konnte, auch selbst daran erkrankte.

Schon im bronzezeitlichen China litten die Menschen an Gelenk- und Rückenproblemen

Für eine individuelle Diagnose taugt die DNA-Methode also nicht, kritisiert Michael Schultz. Er ist Paläopathologe an der Universität Göttingen und verlässt sich lieber auf die mikroskopische Untersuchung von Skeletten. So kann er nach eigener Aussage nicht nur Gelenkverschleiß oder Wachstumsstörungen nachweisen, sondern auch Blutarmut, chronische Herz-Kreislauf-Lungenerkrankungen und Nierenerkrankungen, Hirnhaut- und Rippenfellentzündung oder den angeborenen Verschluss der Aorta.

An Skeletten aus dem bronzezeitlichen China konnte Schultz zeigen, dass Gelenk- und Rückenprobleme, für die heute gemeinhin das viele Sitzen in Büros verantwortlich gemacht wird, auch dort auftreten können, wo Bewegung einen wesentlich größeren Teil des Tages einnimmt. Tennisellenbogen, Sehnenscheidenentzündungen, Bänderriss, Muskelfaserriss, Arthrose und was dergleichen Leiden mehr sind: Schultz erkennt sie an Vergrößerungen der Knochen an bestimmten Stellen. Dort zogen durch die erhöhte Belastung Bänder und Sehnen an dem Knochengewebe, mit dem sie verbunden waren, und regten so das Knochenwachstum an.

Die alten Krankheiten bergen Hinweise für die moderne Medizin

Und nicht nur das. Schultz hat auch eine Methode entwickelt, um aus Knochen Eiweiße zu extrahieren. Krankheiten, die mit der Bildung von Proteinen in Verbindung stehen - Infektionskrankheiten, Tumorerkrankungen und einige genetisch bedingte Krankheiten - sind dem Wissenschaftler zufolge so nachweisbar.

Als Beispiel nennt Schultz den biochemischen Nachweis des Prostataspezifischen Antigens (PSA) im Skelett eines damals 40- bis 50-jährigen Fürsten des Steppenvolkes der Skythen (7. Jahrhundert vor Christus) aus Arzhan in Sibirien. PSA ist ein Enzym, das heute als wichtigster Indikator in der Diagnose von Prostatakrebs gilt. Zusätzlich stellten Schultz und seine Kollegin Tyede Schmidt-Schultz mikroskopisch ein Prostatakarzinom fest. "Damit war die Diagnose astrein", sagt Schultz: der älteste gesicherte Fall von Prostatakrebs.

Paläopathologie: An der vierten linken Rippe eines skythischen Fürsten ist eine sehr große Metastase zu erkennen.

An der vierten linken Rippe eines skythischen Fürsten ist eine sehr große Metastase zu erkennen.

(Foto: Gebhard Bieg, Michael Schultz)

Schultz ist nicht der Einzige, der Krankheiten anhand von Eiweißen nachweisen will. Aber andere sind noch nicht überzeugt. Es gebe "viel Kritik" an diesen Arbeiten, sagt Charlotte Roberts. Sie äußert sich nur zurückhaltend: Diese sogenannte Proteomik könne möglicherweise eine Rolle spielen bei der Diagnose. "Aber die Methode ist in der Paläopathologie noch nicht sehr verbreitet", sagt sie. Die Prostatakrebs-Diagnose unterstützt aber immerhin ihre eigene These, dass Krebs keineswegs eine moderne Zivilisationskrankheit ist, bedingt oder begünstigt durch fett- und zuckerreiche Ernährung, Tabak, Alkohol, Chemikalien oder Luftverschmutzung. Die Fehlerquote bei der Zellreproduktion steigt mit dem Alter - früher starben viele Menschen jung an Infektionskrankheiten und wurden gar nicht so alt, dass sie Krebs hätten entwickeln können.

Der älteste gesicherte Fall von Krebs fand sich an einem Schädel aus der Jungsteinzeit

Fast 200 Fälle von Krebs in archäologischen Befunden auf der ganzen Welt lassen sich dennoch auflisten. Andere Forscher bemängeln jedoch, dass nur wenige dieser Diagnosen einer modernen Evaluation standhalten würden. Der älteste gesicherte Fall eines bösartigen Tumors fand sich am Schädel eines in der Jungsteinzeit um 4000 vor Christus im heutigen Mauer in Österreich lebenden Menschen. Auch in einem medizinischen Text aus Ägypten, der um 3000 vor Christus entstanden sein soll, ist eine Krankheit beschrieben, die heute als Krebs gedeutet wird.

Schultz glaubt, dass die alten Krankheiten Erkenntnisse für heute liefern: "Wir können feststellen, welche Umwelt- beziehungsweise Lebensbedingungen damals für das Auftreten von Krankheiten verantwortlich waren", sagt er. "Da diese Voraussetzungen in einigen Fällen auch für die heutige Zeit gelten - wie teilweise noch in den Ländern der sogenannten Dritten Welt - könnten wir aus der Vergangenheit für eine sinnvollere Entwicklungshilfe, Gesundheitsfürsorge und so weiter lernen."

Und vielleicht ist das nicht alles. Jüngst haben Forscher an den Zähnen eines Neandertalers aus Spanien sogar Hinweise gefunden, dass er Weidenrinde gekaut hatte - die darin enthaltene Salicylsäure war das Vorbild für das Schmerzmittel Aspirin. Und es fanden sich Reste des von Schimmelpilzen hergestellten Antibiotikums Penicillin. Möglicherweise muss die Erforschung alter Krankheiten um eine weitere Facette erweitert werden: die erstaunlichen Kenntnisse über Heilmittel.

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