Paläontologie:Lernen vom Gnu

Die hochpräzise Vermessung von Antilopenschädeln belegt: Mensch und Hornträger stehen sich womöglich näher als gedacht. Die Daten erlauben neue Hypothesen über evolutionäre Trends.

Von Kathrin Zinkant

Es sind nur ein paar Schritte vom Archaeopteryx bis zu den Trophäen der Gegenwart. Zu Dutzenden schauen sie aus leeren Augenhöhlen an die Decke, fast allen fehlt der Unterkiefer, und mit ihren gezwirbelten Hörnern und ausladenden Geweihen wirken sie wie wahllos von der Wohnzimmerwand eines eifrigen Großwildjägers gepflückt: Im Museum für Naturkunde in Berlin stapeln sich derzeit Dutzende von bewehrten Schädeln. Manche haben das Format eines kleinen Katzenkopfes, andere füllen zentnerschwer einen halben Tisch. Trotz der Größenunterschiede sind sich die knöchernen Gesichter allerdings sehr ähnlich. Es sind sogenannte Hornträger, und bei den meisten handelt es sich um Antilopen aus Afrika und Eurasien.

Ausgeleuchtet bis zum letzten Zahn des Oberkiefers, bis zur Kerbe in den tiefen Augenhöhlen

Wobei der Begriff Antilope kein präzise festgelegter Begriff ist, sondern ein Papierkorb-Taxon: Rein kommt all das, was nicht in die exakt bestimmbaren Kategorien von Hornträgern wie Rindern, Ziegen oder Schafen zugeordnet werden kann. Also ziemlich viel. Dennoch hat jeder eine ungefähre Vorstellung davon, was mit Antilope gemeint ist: Schlanke, stolze und bisweilen sehr schnelle Tiere mit langem Geweih, die in den Savannen Afrikas zu Hause sind. Gazellen gehören zu dieser Gruppe, Gnus und Oryxantilopen, insgesamt umfasst sie mehr als 90 Arten. In prähistorischen Zeiten sollen es mindestens doppelt so viele gewesen sein.

Seit drei Wochen können die Besucher des Museums einer Forschergruppe um den Paläontologen Faysal Bibi dabei zuschauen, wie Antilopen und einige andere Hornträger, zum Beispiel ein Bison und ein Elch, wissenschaftlich untersucht werden. In einem der großen historischen Säle, der noch restauriert wird, liegt dafür ein Teil der umfangreichen Tierschädelsammlung der Leibniz-Einrichtung aus. Bis zum 6. November werden die imposanten Knochen hier Stück für Stück auf einen mit dunklem Samt abgedeckten Tisch gelegt, um dreidimensionale Scans von extrem hoher Auflösung anzufertigen.

Vermessung Antilopenschädel

Schädelstätte im Naturkundemuseum: Bei den Antilopen gibt es beträchtliche Größenunterschiede.

(Foto: Hwa Ja Götz)

Dafür kommen spezielle Handscanner zum Einsatz, die ein Blaulicht-Tastsystem nutzen. Trotz des Hightechs unter der Plastikverkleidung muten die Geräte wahlweise wie ein alter Handstaubsauger oder ein Retro-Bügeleisen an. Und wer sie benutzt, sollte enorme Geduld besitzen. Eine Stunde dauert es, bis die Forscher einen Antilopenschädel bis auf den letzten Zahn des Oberkiefers, und bis hinein in jede Kerbe ihrer tiefen Augenhöhlen, ausgeleuchtet haben. "Bei einem einfachen Knochen, zum Beispiel von einem der Dinosaurierskelette, geht das schneller", erklärt Kristin Mahlow. Dafür wird der Scanner in einer Entfernung von 20 bis 30 Zentimetern aus verschiedenen Winkeln um den Knochen herumgeführt, während der angeschlossene Computer das dreidimensionale Modell und ein darüber liegendes Raster errechnet - so lange, bis die gewünschte Präzision erreicht ist.

Doch die Mühe lohnt sich, denn die Vorteile der digitalen Methode gegenüber händischen Vermessungen sind gigantisch. Schon die Auflösung von einem Zehntel Millimeter lässt sich mit analogen Mitteln gar nicht erreichen. Hinzu kommt, dass der Computer fixe Vergleichspunkte am Schädel setzen kann. Auf diese Weise lassen sich alle Überbleibsel, auch die von versteinerten Funden, unmittelbar miteinander vergleichen, und zwar weltweit über das Internet. Übergänge zwischen Arten lassen sich durch den Vergleich am Rechner relativ mühelos erkennen. Und nicht zuletzt werden die Forscher aus verwandten Antilopenarten vielleicht sogar Spezies errechnen können, von denen man bisher nichts wusste - oder die sich sogar erst in der Zukunft entwickeln.

Vermessung Antilopenschädel

Mit einem Handscanner vermisst die Paläontologin Kristin Mahlow den Schädel, auf 0,1 Millimeter genau.

(Foto: Hwa Ja Götz)

Doch so spannend das allein schon sein mag: Obwohl die Evolution der Hornträger seit vielen Jahren im Mittelpunkt von Bibis Arbeit steht, geht es dem Paläontologen beim Scannen um mehr als nur um die Stammesgeschichte der einst so vielfältigen Tiere in Afrika. Auf lange Sicht will der in Palästina geborene und im Libanon aufgewachsene Forscher herausfinden, wie die Entwicklungsgeschichte der Beutetiere mit der Entstehung des modernen Menschen zusammenhängt. "Wir schauen immer viel zu sehr darauf, wie sich einzelne Arten, auch der Mensch, entwickelten", sagt Bibi. "Aber man muss ihre Evolution im großen Zusammenhang betrachten." Dass die Vorfahren des Homo sapiens vor zwei bis fünf Millionen Jahren im ostafrikanischen Verbreitungsgebiet dieser Tiere auftauchten, ist seit der Entdeckung der Vormenschen Ardi, dem Kind von Taung sowie Lucy unstrittig. Bibi hat anhand der bislang erfassten Daten zudem gezeigt, dass sich die Antilopenarten des afrikanischen Kontinents in kontinuierlicher Weise entwickelten und nicht, wie früher vermutet, in Schüben, bedingt durch klimatische Veränderungen.

Auch konnten die Forscher rekonstruieren, wie sich die Ernährung der Antilopen über die Jahrhunderttausende veränderte. "Wir können anhand des Zahnschmelzes der Tiere zwar nicht genau auf die Arten von Gräsern schließen, die von den Tieren bevorzugt wurden", erklärt Bibi. "Aber das Verhältnis von Kohlenstoffisotopen zeigt eine deutliche Verschiebung von sogenannten C3-Pflanzen, also Bäumen und Büschen, hin zu C4-Gewächsen wie Gräsern." Gemeinsam mit den Vorfahren des Menschen wechselten die Antilopen Afrikas damals aus den Wäldern in die offenen Flächen der Savannen. Die Zahl der Antilopenfossilien übersteigt dabei den Umfang der menschlichen Funde bei Weitem. Deshalb lassen sie sich besser untersuchen.

Dann griffen sie selbst zur Waffe und taten es den Bestien der damaligen Wildnis gleich

Offenbar haben Antilopen und Menschen in prähistorischer Zeit ähnliche Merkmale entwickelt, nämlich einen großen Körper, eine enorme Beweglichkeit und eine pflanzliche Ernährung. "Das ist nicht einfach nur eine statistische Korrelation", schreiben die spanischen Paläoanthropologen Francisco Ayala und Camilo Cela-Conde. Die Forscher glauben an einen Zusammenhang. "Die Untersuchung bovider Fossilien kann von Nutzen sein, um neue Hypothesen über evolutionäre Trends des Menschen zu generieren." Zumal die Frühmenschen vor etwa zwei Millionen Jahren begannen, das Fleisch der womöglich damals schon domestizierten Tiere zu essen. Die Spuren an den Knochen sind eindeutig: Erst versuchten sie sich am Aas, das von Raubtieren zurückgelassen worden war. Dann griffen sie selbst zur Waffe - und taten es den Bestien der damaligen Wildnis gleich. Der Mensch ging auf die Jagd.

Link-Tipp

Erste Ergebnisse der Vermessung von Antilopenschädeln im Museum für Naturkunde Berlin sind über die Internetseite des Museums zu sehen.

"Wir wollen herausfinden, ob einige der tierischen Jäger durch diese neue, menschliche Konkurrenz ausgestorben sind", sagt Faysal Bibi. Dazu will der Forscher sowohl klimatische Modellierungen, als auch die Daten aus der Paläontologie und der Paläoanthropologie zusammenführen. Ein Mammutprojekt, bei dem es in zwei Jahren erste Ergebnisse geben soll. Bis dahin lassen sich einige der gescannten Schädel im Internet betrachten: Auf der Website des Naturkundemuseums werden die vorläufigen Resultate der Scans veröffentlicht - zum Drehen und Wenden und Staunen.

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