Süddeutsche Zeitung

Anthropologie:Wo die Menschen laufen lernten

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Von Nora Ederer

Skelettfunde belegen, dass die ersten Frühmenschen vor vielleicht sechs Millionen Jahren im östlichen Afrika erstmals den aufrechten Gang übten. Dafür sprechen Knochenfragmente des sechs Millionen alten Orrorin oder das berühmte Skelett der Australopithecus-afarensis-Frau "Lucy", die vor mehr als 3,2 Millionen Jahren in der Region lebte. Bislang gingen Forscher davon aus, dass es dort damals so ähnlich ausgesehen haben dürfte, wie heute: eine Savannenlandschaft. Doch diese Vorstellung korrigieren wollen nun drei amerikanische Paläoökologen. Sie glauben: Die frühen Menschen lernten wohl eher im Wald das Laufen, als auf einer Wiese.

Wo heute weite Savannen das Landschaftsbild prägen, standen vor sieben Millionen Jahren vermutlich viel mehr Bäume und Sträucher, legt das Team um den Archäologen Tyler Faith vom Naturhistorischen Museum in Salt Lake City im Wissenschaftsjournal PNAS dar. Zu diesem Schluss kommen die drei Forscher, nachdem sie Daten zur Körpergröße und Ernährung sowie den Verdauungsmechanismen zahlreicher urzeitlicher Säugetiere ausgewertet haben. Dabei stellten sie fest, dass bis vor 4,5 Millionen Jahren besonders viele große Pflanzenfresser lebten. Und um zu überleben brauchten diese Tiere große Mengen Pflanzenmaterial, die sie jeden Tag verputzen konnten. So kamen die Paläoökologen auf die Theorie mit der baumreicheren Ur-Landschaft.

Konkret zeigte sich in ihrer Analyse, dass auffällig viele der damals lebenden Tiere in die Gruppe der Megaherbivoren fielen - also außergewöhnlich großen Säugetiere, die mehr als eine Tonne wiegen und sich ausschließlich von Pflanzen ernähren. Dazu zählen heute nur noch wenige Arten, wie Elefanten oder manche Nashörner. Doch in der Vergangenheit gab es sehr viele und sehr viel mehr verschiedene große Pflanzenfresser, schreiben die Wissenschaftler. Sie prägten die Welt um sie herum nicht nur aufgrund ihrer Körpergröße, sondern vor allem wegen ihres hohen Futterverbrauchs. "Megaherbivoren sind wie verdauende Fließbänder", sagt Tyler Faith. Manche dieser Riesenvegetarier konnten seiner Meinung nach innerhalb kürzester Zeit ganze Bäume kahl fressen.

Vergleiche zwischen urzeitlichen Landschaften und modernen Ökosystemen sind irreführend

Steven Goldberg vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena findet diese Erkenntnis wichtig: "Es gibt in der Urzeitforschung eine lange Debatte darüber, ob sich Menschen eher im Wald oder in der Savanne entwickelt haben - aber die Studie zeigt, dass wir einfach die falsche Frage gestellt haben." Die neue Untersuchung zeige, dass Ökosysteme für den Großteil der letzten sieben Millionen Jahre ganz anders funktionierten als heute. "Die Interaktionen zwischen Tieren und Pflanzen waren wahrscheinlich ganz anders; das können wir uns eigentlich gar nicht vorstellen", sagt Goldberg. "Mit einer Savanne oder einem Wald, wie wir sie heute kennen, hatten sie jedenfalls wenig zu tun."

Mittlerweile ist die Savanne der am weitesten verbreitete Landschaftstyp in Ostafrika. Heute prägen weite, ebene Gras- und Weideflächen die Region. Bäume und Sträucher gibt es nur wenige und die, die es gibt, wachsen weit voneinander entfernt. Hier leben und grasen vor allem Wiederkäuer wie Rinder und Antilopen. Doch wie erklären sich Faith und seine Kollegen, dass es in Afrika heute so anders aussieht als zur Zeit der großen Pflanzenfresser? Zum einen lässt sich mithilfe von Ablagerungen auf dem Meeresboden die Niederschlagsentwicklung der Urzeit rekonstruieren. Diese Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Klima vor ungefähr einer Million Jahren zunehmend trockener wurde. Eine interglaziale Warmzeit begann und setzte vor allem die Gruppe der Megaherbivoren unter Druck. Denn das Angebot an Blättern und Zweigen ist während der Trockenzeit wohl deutlich zurückgegangen, sodass die großen Pflanzenfresser ihren Hunger nicht mehr stillen konnten. Zum anderen belegen Kohlenstoffisotope im Boden, dass sich Gras- und Weideflächen seit dem späten Miozän immer weiter ausgebreitet haben. Und weil sich wiederkäuende Tiere darauf besonders wohlfühlen, dominieren Rinder und Antilopen mittlerweile große Teile der ostafrikanischen Landschaft.

Während der letzten sieben Millionen Jahre hat sich auf der Erde viel verändert. Deshalb sei es häufig irreführend, Vergleiche mit der Gegenwart aufzustellen, sagt Faith. "Wenn wir weiterhin Ur-Landschaften anhand moderner Ökosysteme rekonstruieren, vernachlässigen wir eine Fülle an anderen Möglichkeiten." Doch sein Team betont auch, dass derart umfassende Projekte wie seines, das einen Zeitraum von sieben Millionen Jahre umspannt, bis vor Kurzem noch gar nicht möglich gewesen sei. Gerade deshalb ist auch Steven Goldberg vom Max-Planck-Institut von der Studie seiner amerikanischen Kollegen beeindruckt: "Sie haben eine gigantische Menge an Daten analysiert. Somit liefern die daraus gewonnenen Erkenntnisse einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Menschheitsgeschichte."

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Quelle:
SZ vom 15.10.2019
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