Paläontologie:Die rätselhaften Knochen von der Schwäbischen Alb

Paläontologie: Vater, Mutter, Kind? Wurden sie erst ermordet, dann geköpft und später respektvoll bestattet? Drei Schädel aus dem Karstgestein des Lonetals geben Rätsel auf.

Vater, Mutter, Kind? Wurden sie erst ermordet, dann geköpft und später respektvoll bestattet? Drei Schädel aus dem Karstgestein des Lonetals geben Rätsel auf.

(Foto: Uni Tübingen, Osteologische Sammlung)
  • Seit 2017 zählt die Eiszeitkunst aus den Höhlen im Lone- und Achtal zum Unesco-Weltkulturerbe.
  • Die Suche nach den Menschen jener Zeit bringt erstaunliche Knochenfunde zu Tage. Sie sind spannend wie ein Krimi.
  • "Tod im Tal des Löwenmenschen" heißt eine Ausstellung im Museum Ulm, die den "Knochengeschichten aus 100 000 Jahren" gewidmet ist.

Von Hans Holzhaider

Das Flüsschen Lone windet sich über 38 Kilometer etwa parallel zur Donau über die Hochfläche der Schwäbischen Alb nördlich von Ulm. Streckenweise versickert das Wasser im Karstgestein.

Das Lonetal ist ein Trockental, in dessen Steilufern sich viele für den Karst typische Höhlen gebildet haben. Sie haben die Gegend weltberühmt gemacht. In der Stadelhöhle im unteren Lonetal fand der Tübinger Anatomieprofessor Robert Wetzel im August 1939 Bruchstücke eines Mammutstoßzahns, die deutliche Bearbeitungsspuren aufwiesen.

Nach dem Krieg gelang es, diese und weitere Fundstücke zu einer Figur zusammenzusetzen: Es war ein menschlicher Körper mit einem Löwenkopf, geschnitzt vor etwa 40 000 Jahren, die älteste bekannte figürliche Darstellung eines Mensch-Tier-Mischwesens.

In anderen Höhlen im Lonetal und im nahe gelegenen Achtal bei Blaubeuren wurden ebenfalls aus Elfenbein geschnitzte Tierfiguren gefunden - Mammuts, Löwen, ein Wildpferd mit aufgestellter Bürstenmähne, ein filigraner, nur knapp fünf Zentimeter großer Wasservogel und 2008 sogar eine Frauenfigur mit enormen Brüsten, ähnlich der berühmten Venus von Willendorf - aber 15 000 Jahre älter. Seit 2017 zählt die Eiszeitkunst aus den Höhlen im Lone- und Achtal zum Unesco-Weltkulturerbe.

Die Kunstwerke sind da, aber von den Künstlern fehlt jede Spur. Es wurden zwar menschliche Knochen in den Höhlen gefunden, aber kein einziger stammt aus der Zeit, in der die Frauenfigur und der Löwenmensch geschnitzt wurden. Dennoch erzählen auch diese Überreste spannende Geschichten - nicht nur von den Menschen, die über mehr als hunderttausend Jahre hinweg in den Höhlen auf der Schwäbischen Alb lebten und starben, sondern auch von denen, die sie ausgruben, untersuchten und zu deuten versuchten. "Tod im Tal des Löwenmenschen" heißt eine kleine, aber sehenswerte Ausstellung im Museum Ulm, die den "Knochengeschichten aus 100 000 Jahren" gewidmet ist.

Mutter und Kind

Der königliche Oberförster Ludwig Bürger war zwar ein wissenschaftlicher Laie, aber den Fund, den er 1884 in der Bocksteinhöhle machte, dokumentierte er auf vorbildliche Weise: ein Skelett in hockender Position, zu dessen Füßen das Skelett eines, der Größe nach zu schließen, neugeborenen Kindes lag. Der Anthropologe Hermann von Hölder billigte den Knochen ein Alter von höchstens zwei- bis dreihundert Jahren zu. Der Bonner Anthropologe Hermann Schaaffhausen war anderer Ansicht - er hielt die Skelette für mindestens 2000 Jahre alt. Es entbrannte ein erbitterter Gelehrtenstreit. Hölder war Anhänger des Pathologen Rudolf Virchow, der Darwins Evolutionslehre für Humbug hielt und die Existenz von Urmenschen als "prähistorische Träumereien" abtat. Schaaffhausen war für Virchow und dessen Anhänger ein rotes Tuch, weil er die Skelettfunde aus dem Neandertal publiziert hatte. 1899 - der wackere Oberförster Bürger war ein Jahr zuvor gestorben - schien eine Eintragung im Sterberegister von Öllingen aus dem Jahr 1739 die Virchow-Anhänger zu bestätigen: Dort war der Tod einer gewissen Anna Eiselin dokumentiert, die sich, im dritten Monat schwanger, mit Gift das Leben genommen hatte und als Selbstmörderin des Nachts "in dem Lonthal in einen Felsen gelegt worden" sei. Dass das Kinderskelett viel zu groß für einen drei Monate alten Fötus war, schien niemanden zu stören.

Später galten die Skelettreste lange Zeit als verschollen; erst 1997 wurden sie im Depot des Museums Ulm wiederentdeckt. Jetzt konnte man das Alter mit der Radiokarbonmethode ermitteln: Die Knochen stammen aus dem 7. Jahrtausend vor Christus, also aus der mittleren Steinzeit. Die Frau war bei ihrem Tod 20 bis 25 Jahre alt, und woran auch immer sie gestorben ist - sie muss unter schrecklichen Zahnschmerzen gelitten haben. Neun Backenzähne sind schwer kariös, ein Befund, der auf übermäßigen Honiggenuss schließen lässt. Anderen Zucker gab es in der Steinzeit nicht.

Die drei Schädel

Die Stadelhöhle, in der auch der Löwenmensch gefunden wurde, war von einer Mauer versperrt, über deren Ursprung viel spekuliert wurde. Die einen glaubten, die Römer hätten sie gebaut, andere meinten, die Bewohner der Gegend hätten sich im Dreißigjährigen Krieg hier verschanzt. In den Ratsprotokollen der Stadt Ulm ist vermerkt, die Mauer sei im 16. Jahrhundert gebaut worden, um die Höhle als Unterschlupf für Räuberbanden unbrauchbar zu machen. Unter dem Fundament dieser Mauer stieß Robert Wetzel 1937 auf eine tiefe Grube, in der drei menschliche Schädel lagen - die Schädel eines Mannes und einer Frau im Alter von 20 bis 30 Jahren sowie eines eineinhalb bis zweijährigen Kindes (siehe großes Bild). Die Radiokarbondatierung verweist die Schädel in das siebte vorchristliche Jahrtausend - ähnlich wie bei der Frau und dem Säugling.

Was hier geschehen ist, bleibt ein Rätsel. Mann und Frau starben eines gewaltsamen Todes. Die Schädeldecken weisen Spuren eines Schlages mit einem stumpfen Gegenstand auf, die nicht verheilt sind. Am Schädel des Kindes ist der Befund nicht eindeutig, aber er ist etwas zu groß für das Alter, also war das Kind vielleicht krank. Unter den Schädeln fand man jeweils die obersten Halswirbelknochen mit Schnittspuren; die Schädel wurden somit nach dem Tod abgetrennt. Aber sie wurden nicht einfach verscharrt; sie lagen auf einem Steinpflaster und waren mit einer Rötelschicht bedeckt. Beim Schädel der Frau lagen elf Zähne des Perlfischs, einer in der Region heimischen Karpfenart, die vermutlich zu einer Kette geknüpft und der Frau mit ins Grab gegeben worden waren. Sie und ihr Mann starben zwar einen gewaltsamen Tod - wurden aber ehrenvoll bestattet.

Der Neandertaler

Ebenfalls aus der Stadelhöhle stammt ein Knochen, der auf den ersten Blick nicht viel hermacht: ein menschlicher Oberschenkelknochen, 25 Zentimeter lang, ohne Hüft- und Kniegelenk. Gefunden ebenfalls 1937, in der tiefsten archäologischen Schicht im Eingangsbereich der Höhle. Der Kenner sieht auf den ersten Blick: Das ist kein Knochen eines Homo sapiens, sondern eines Menschen vom Typus des Neandertalers. Sein Alter: etwa 124 000 Jahre, also mehr als dreimal so alt wie die Künstler, die den Löwenmenschen schufen. Der Oberschenkelknochen ist der einzige Nachweis eines Neandertalers in Süddeutschland. Die oberen und unteren Enden des Knochens weisen Bissspuren auf. Wahrscheinlich hat ein großes Raubtier den Knochen in die Höhle geschleppt und abgenagt.

Sind Neandertaler und moderne Menschen sich auf der Schwäbischen Alb begegnet? Das gilt als unwahrscheinlich. Wahrscheinlich waren die Neandertaler schon verschwunden, als der erste Homo sapiens vor rund 40 000 Jahren in Mitteleuropa auftauchte. Aber der Knochen aus der Stadelhöhle hielt noch eine große Überraschung bereit.

In der mitochondrialen DNA des Knochens - das ist ein Teil der DNA, der nur von der Mutter weitergegeben wird - fanden die Forscher Merkmale, die Menschen vom Homo-sapiens-Typ zuzuordnen sind. Das bedeutet, dass eine der mütterlichen Vorfahren des Neandertalers aus Schwaben sich mit einem Homo sapiens gekreuzt haben muss - mehr als 120 000 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Also muss der moderne Mensch entweder schon damals nach Europa eingewandert sein, oder aber die Vorfahren dieses Neandertalers müssten eine Expedition nach Afrika unternommen haben und dann nach Europa zurückgekehrt sein. Beides wäre eine wissenschaftliche Sensation.

Knochen erzählen Geschichten. Im Museum Ulm kann man sie nacherleben.

"Tod im Tal des Löwenmenschen. Knochengeschichten aus 100 000 Jahren." Museum Ulm, noch bis 24. November 2019. Di - So 11 - 17 Uhr, Do 11 - 20 Uhr. www.museumulm.de

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